Kunst darf das

Liedfest Zürich wird von wechselnden Kunstschaffenden begleitet, die ihre Erinnerungen an das Gesehene und Gehörte in verschiedenen Formaten verarbeiten. So entsteht jeweils ein bildnerischer, schriftlicher, oder musikalischer Nachklang, der das Erlebte nicht nur dokumentiert, sondern durch eine individuelle Perspektive und einen starken künstlerischen Zugriff in ein neues Licht rückt. Den Auftakt gibt der Schriftsteller, Spoken Word Artist und bildende Künstler Jürg Halter mit dem Text «Kunst darf das», der in einen offenen transmedialen Dialog zu seinem Gemälde «To be taken in» tritt.

Eine liederliche Halluzination des Schriftstellers und Künstlers Jürg Halter in 10 Kapiteln. Oder ein sehr freier literarischer Nachklang zum Liedfest Zürich, das vom 15. bis zum 17. März 2025 stattfand

Jürg Halter
Zum Liedfest Zürich im März 2025

1. Anfang/Ende

Wann beginnt es nun? Oder hat es das schon? Ist das noch Saallicht oder bereits Inszenierungsschein? Man kann nur hoffen, dass es nicht längst vorbei ist. Heutzutage weiss man ja nie. Das Ende als Anfang auszugeben, das wäre so ein typisches Gegenwartskunstding. By the way: Gehören die zwei einander zuflüsternden Menschen dort zur Aufführung? Oder sind sie Teil des Publikums? Ist jene laut herauslachende Frau eine Schauspielerin oder geht sie einfach proaktiv gegen ihren selbst diagnostizierten Aufmerksamkeitsdefizitkomplex vor? Vielleicht steht gar die Idee im Raum, dass wir uns alle als Ensemble verstehen sollen.

  • 2. Vorspiel

    Dieser Lärm! Das Stühlerücken gehört bestimmt zum ganzheitlichen Hörerlebnis – wer hat die Noten dafür geschrieben? Und die, die dort drüben miteinander konversieren, suchen sie bereits nach der Grenze zum Lied? Tatsächlich ist ihr Sprechen von hier aus als eine Art rhythmisches Summen zu vernehmen – also irgendwie Klang, der getaktete Wörter umhüllt, Wörter, die im Klang aufgehen – hört genauer hin. Wir tauchen ab.

    Doch kaum hat man sich in diese Musik vertieft, beginnt ein Baby zu schreien. Wie ist es in diesen Raum geraten? Ist’s aus jenem Flügel dort gekrochen? Ein durchaus klangvolles Baby. Von Sprache jedoch kann noch keine Rede sein. Obwohl, spitzt nur die Ohren – ja, genau, das Baby schreit mit der Zeit immer differenzierter. Es beginnt sich zu zivilisieren, sich unseren gesellschaftlichen Zwängen zu unterwerfen. Das ist furchtbar. Könnte das Baby schon reden, würde es bestimmt einwenden: «Ich schreie nicht, ich kommuniziere.» Noch schreit es aber sprachlos, was ja, je nach Gehörbildung, zumindest als forcierter Gesang interpretiert werden könnte. Also ... you’re all right, Baby!


    3. Endlich

    Plötzlich, aus Unvermögen, sich anders ausdrücken zu können, oder vielleicht gar aus purer Verzweiflung, beginnt jetzt ein an und für sich sprachgewandter Erwachsener wie am Spiess zu schreien. Hochnotpeinlich. Das verstösst gegen unseren Gesellschaftsvertrag! Na, es könnte natürlich auch einfach ein Schauspieler sein, der ein Riesenbaby darstellt. Abermals so ein Gegenwartskunstdings.

    Hinter dem Flügel erscheint, das sich zuspitzende Drama vor diesem ignorierend, eine Frau und intoniert mir nichts, dir nichts Clara Schumanns «Warum willst du and’re fragen?». Der Hochnotpeinliche verstummt auf der Stelle. Endlich Konzert. Die Pianistin spielt so leichthändig, wie jemand anderes beflügelt über den kommenden Frühling schwadroniert. Da denkt sich manch einer von uns, ob das nun die Ahnung von einer Möglichkeit sei, die hier noch niemand ins Auge fasste. Derweil hebt die Sängerin in höhere Sphären ab. Mein Gott, was würde die Schumann dazu sagen?


    4. Unverschämt

    Schon Pause? Nein, das glaube ich nicht. Der Mann mit seiner glänzenden Kaffeemaschine dort steht bestimmt in der Besetzungsliste. It’s Transdisziplinarität, Baby! Jetzt aber ran ans Buffet! Doch, oh, Schreck! Unglaublich! Der Preis für ein so kleines Lachsbrötchen... unverschämt! Da ist tatsächlich mehr Butter als Lachs drauf. Und die Zitrone fehlt?! Lachs ohne Zitrone ist wie eine Klaviatur ohne schwarze Tasten. Entschuldigt diesen unmotivierten Vergleich, aber man wird ja wohl mal noch was sagen dürfen. Irgendwo muss die Kunstfreiheit ihre Grenzen haben!


    5. Ein Lied über gar nichts

    Wieder Stühlerücken! Jede und jeder im Raum, selbst das Baby, das sich mittlerweile dem Schlaf überantwortet hat, denkt alsbald: «Ich werde ein Lied über gar nichts machen.» Man lächelt einander zu. Die Sängerin fährt beseelt mit Schumann fort. Beinahe klingt nun so was wie Versöhnung an.


    6. Oh, nein, Weltpolitik

    Da betritt jemand Neues die Szene und verkündet: «Willkommen zum Salon der Mündigkeit, wir wollen mal eben kurz die Weltlage generell und überhaupt verhandeln: Europa, na ja, ziemlich in der Klemme, um es schwer verharmlosend zu sagen. Die U.S.A. sind experimentell drauf, um es diplomatisch zu sagen: Sie lassen die Demokratie, die schon bislang arg gebeutelt wurde von denen, die sich nun erneut als deren Retter gegenüber den aktuellen, vermeintlichen Rettern der Demokratie aufspielen, sich selbst abschaffen. Komplizierter Satz? Komplizierte Welt! Und Russland? Respektive Russland und Friedensverhandlungen? Ob sich eine scharfe Landmine durch gutes Zureden in eine Friedensmission transformieren lässt? Kreischend laute Zweifel sind angebracht. China schickt ein kühles Lächeln um die Welt. Schrecklich, dieses dystopische Schauspiel!»

    Was ist das denn für ein verrückter Performer? Genug rhetorischer Klimbimwahn! Diese allgegenwärtige Politisiererei geht mir so was von auf die Nerven. Wo bleibt das Lied über nichts? Ein Blick in die Runde reicht, um zu erkennen: Man hält leise verzweifelt Ausschau nach dem Mann mit der Kaffeemaschine – einem Erlöser auf Augenhöhe.


    7. Komplexitätsphobie

    Der Performer fährt fort: «Für gewöhnlich redet man in einem geschützten Rahmen unter Gleichdenkenden über den Niedergang der Demokratie, an dem die eigene Blase selbstverständlich keinerlei Mitschuld trägt. Man ist schliesslich stets auf der richtigen Seite, respektive wabbelt in der richtigen Blase. Stets frisch mit Lachsbrötchen gefüttert, wandeln wir uns so selbst in Lachse und schwimmen konform gegen den Strom auf dem Weg zu noch mehr Wandel und Erneuerung – selbstverständlich ohne die Blase zu verlassen. Ebenso selbstverständlich merken wir dabei nicht, wenn Fortschritt, ideologisch zersetzt, zum Rückschritt vorkommt. Redefreiheit bedeutet dann selbstverständlich längst, nur noch die zu Wort kommen zu lassen, die einem nicht widersprechen und also unter Demokratie dasselbe verstehen wie man selbst. Der Diskurs ist zum vielstimmig-eintönigen Monolog verkommen. Es ist so schrecklich schön zu sehen, dass wir uns noch immer am liebsten selbst auf den Leim gehen. Ein Hoch auf die Komplexitätsphobie! Aber lasst uns bitte nicht über Politik sprechen. Wir sind schliesslich wegen der Kunst hier und Kunst hat doch nichts mit...»


    8. Verzauberung

    Der Mann mit der Kaffeemaschine tupft sich mit seinem hübschen Einstecktuch den Schweiss von der Stirn. Schumann stürzt enthemmt auf ihn zu. Oder bilde ich mir das nur ein? Sicher ist nur: Intellektuelle Weltbetrachtungsspiele werden uns weiss Gott nicht vor der nächsten Katastrophe retten. Okay, alles andere vermutlich auch nicht. «Ha ha ha!», lacht es teuflisch aus dem Flügel, «So lasst uns Europa pazifistisch gesinnt untergehen lassen! Fremdbestimmung als Chance! Wandel durch Unterwerfung!»

    Gottlob! Endlich wieder ein Lied! Die Pianistin murmelt: «Die Verblendung der Welt als Verzauberung verkaufen», und spielt. Die Sängerin singt: «Die Verzauberung dient der fortwährenden Ablenkung von der Ablenkung von der Ablenkung von...» – hat das auch Schumann komponiert? Noch viel drängender stellt sich mir nun plötzlich die Frage: Wenn wir lernten, den Tod als Chance zur Selbstoptimierung unter umgekehrten Vorzeichen zu begreifen, was dann? Hirn! Lass gut sein!

    Die Sängerin fährt fort: «Ich stand in dunklen Träumen, und starrte ihr Bildnis an...»,

    und so unaufgefordert wie unerwartet setzt mit einem Mal das ganze Publikum mit ein: «Und das geliebte Antlitz, heimlich zu leben begann.»


    9. Beschwerden

    Ach, Gottchen, eine durchaus spannende Inszenierung war das nun. Ein hübsches Konzert ohne Anfang verkam zu einem politischen Diskurs, bevor dieser zu einem Lied über ungefähr nichts gerann und sich schlussendlich in einen Text über beinahe alles auflöste. Aber ich will nichts gesagt haben. Eure Beschwerden könnt ihr sehr, sehr, sehr gerne an der Garderobe gegen eure Jacken, Mäntel und Taschen eintauschen. So läuft das hier. Schumann, verflucht! Jetzt sagen Sie endlich auch mal was!


    10. Ende/Anfang

    Wann endet es nun? Oder ist’s schon vorbei? Ist das noch Inszenierungsschein oder bereits Saallicht? Man kann nur hoffen, dass es nicht schon wieder angefangen hat. Der Flügel schweigt. Die Stühle stehen still. Doch die Kaffeemaschine, jawohl, die kühlt nimmer ab.