Was passiert, wenn Musik und Gedicht sich treffen?

Vortrag

Das Lied gilt als besondere musikalische Kostbarkeit: ein kleines Gesamtkunstwerk, das aus der Begegnung eines gelungenen Gedichts mit schöner Musik entsteht. Trotz all der Perfektion, welche Lieder auszustrahlen scheinen, ist dieses harmonische Bild aber trügerisch. Bei näherem Zusehen zeigen sich interessante Probleme und unerwartete Konfliktzonen. Hans-Joachim Hinrichsen geht ausgehend hiervon den Fragen nach, wie harmonisch die Synthese von Poesie und Musik in Wirklichkeit funktioniert und was das für das Hören von Liedern bedeutet.

Hans-Joachim Hinrichsen
Im Rahmen des Lied-Happenings «Fesselt mich in Sympathie!»

Liebe Freundinnen und Freunde des Liedes!

So wage ich Sie anzusprechen, weil ich vermute, dass Sie sich hier aus Liebe zu einer ganz besonderen Kunstform versammelt haben, die man eben in verschiedenen europäischen Sprachen als «das Lied» bezeichnet. Obwohl das Englische und das Französische eigene Wörter für «song» oder für «chanson» haben, ist dieser Kunstform, über die ich hier sprechen möchte, auch in diesen Sprachen die Ehre eines Lehnworts zuteilgeworden: Es heisst im Angelsächsischen «the Lied» so wie im Französischen «le Lied». Um was also handelt es sich dabei? Mit dem «Lied» – das gilt für die folgenden 20 Minuten – meine ich jenes besondere Gebilde, das im deutschsprachigen Kulturraum vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein aus der Begegnung von Poesie und Musik entstanden ist: in seiner Reinform als Klavierlied ein kleines Gesamtkunstwerk.

  • Am Beginn meiner Überlegungen steht nicht zufällig Johann Wolfgang von Goethe. Er ist zwar beileibe nicht der erste, wohl aber der mit Abstand am meisten vertonte Lyriker deutscher Sprache, ja wohl sogar der meistvertonte Dichter überhaupt. Woran mag das liegen? Nun, zunächst einmal ganz schlicht und ergreifend an der schieren Qualität seiner Dichtung, dann auch an ihrem ungeheuren Umfang und schliesslich an ihrer immensen Typenvielfalt, die vom schlichten Volksliedton bis zum pathetischen Hymnus und zum tiefgründigen Sinngedicht reicht. Andererseits aber kann man sich fragen: Wozu muss eigentlich ein perfektes Gedicht in Musik gesetzt werden? Warum muss es, wie wir das nennen, unbedingt «vertont» werden? Mit anderen Textgattungen wie Heiratsanzeigen oder Postkartentexten macht man das ja auch nicht – obwohl es genau das im 20. Jahrhundert, etwa bei Alban Berg oder bei Hanns Eisler, schliesslich ebenfalls gibt. Also nochmals. Wozu ein Gedicht vertonen? Ich möchte, dass Sie einmal nachvollziehen, wie wenig selbstverständlich das eigentlich ist. Man kann es ja laut deklamieren oder, ebenso schön, stumm lesen und dabei geniessen. Genügt das nicht? Nein! Und wir haben dafür einen prominenten Kronzeugen: keinen Geringeren als Goethe selbst. Der junge Goethe hat sich seine frühen Gedichte nicht anders als gesungen vorstellen mögen, oft sogar auf bereits existierende Melodien. Sie waren ihrem Typus nach ohnehin Lieder, scheinbar schlicht, in Wirklichkeit aber mit höchster Meisterschaft verfertigte Kunstgebilde, denen der Dichter selbst aber keinen sonderlich hohen ästhetischen Wert beilegte. Sie waren, artifiziell, stilisiert und raffiniert, wie sie waren, dennoch Gebrauchskunst zum Singen, und es dauerte überhaupt lange, bis sich Goethe bereit erklärte, seine handschriftlich in der Welt verstreuten und von Liebhabern bereits geschätzten frühen Gedichte zu sammeln und drucken zu lassen – erst 1790 innerhalb der ersten Gesamtausgabe seiner Werke. Das Gedicht, so mochten es Goethe und seine Zeitgenossen sehen, drängt von sich aus zum Gesungen-Werden, und der grosse Weimarer Dichterfürst hat bis in seine alten Tage gern Musiker um sich gesehen, die seine Lyrik mit Musik versorgten: erst Johann Friedrich Reichardt, später vor allem Carl Friedrich Zelter. Doch Moment: Da gab es ja noch einen, der die eben Genannten durch seine lyrisch-musikalische Begabung weit in den Schatten stellt und für viele Musikliebhaber auch heute noch als der eigentliche Klassiker des Liedes gilt: Franz Schubert! Goethe-Gedichte bilden in dem umfangreichen Lied-Oeuvre Franz Schuberts den Löwenanteil, und das ist natürlich kein Zufall. Sondern hat die besagten Gründe: Qualität, Vielfalt und Umfang der Dichtung. Aber ausgerechnet diesen Komponisten hat Goethe nicht wirklich zur Kenntnis genommen, wahrscheinlich nicht einmal gemocht. Für uns Heutige ist das eine Katastrophe: Goethe und Schubert, das ist für die Geschichte des Liedes das absolute Idealpaar. Aber im realen Leben hat es nicht sein sollen. Zweimal hat Schubert es versucht: 1816, als Neunzehnjähriger, hat er ein sorgfältig kalligraphiertes Heft seiner Goethe-Vertonungen nach Weimar geschickt, und 1825, als reifer Komponist, versuchte er es mit einem gedruckten Goethe-Liederheft nochmals. In beiden Fällen blieb der Annäherungsversuch ohne Antwort (im ersten Fall schickte Goethe das handschriftliche Album, wenn auch kommentarlos, wenigstens an den Absender zurück).

    Aber warum eigentlich? Warum hat Goethe die Qualität von Schuberts Liedern, die wir heute so schätzen, lieben und verehren, nicht erkannt? Nun – meine Antwort ist: Er hat sie sehr wohl erkannt, und gerade WEIL er sie erkannt hat, hat er sie abgelehnt. Das klingt paradox und ist es auch. Aber wir nähern uns hier dem Kern des Problems. Für uns ist das Lied etwas ganz Spezielles, eine einzigartige Kunstform: die Begegnung zweier ganz besonderer und exquisiter ästhetischer Gegenstände: gelungene Lyrik und schöne Musik. Wir stellen uns das Lied daher als etwas Unvergleichliches vor und denken dabei gern an reine Harmonie und an einen zauberhaften Synergie-Effekt: glückliches Gelingen, grosse Freude beim vertonten Dichter, Schaffensglück beim vertonenden Komponisten, Glücksgefühle beim Singen, Spielen und Hören des gelungenen Produkts. DOCH SO IST ES LEIDER NICHT – traurig zu sagen, aber wahr. Der Fall Goethe-Schubert zeigt, dass ich dieses schöne friedliche harmonische Bild stören muss. Wer ist dann nun der Spielverderber? Niemand anderer als die Kunstform «Lied» selbst.

    Stellen Sie sich für einen Moment vor, Sie sollten ein Gedicht von Goethe vertonen. Wie gehen Sie vor? Vielleicht so wie Johann Friedrich Reichardt, der zeitweise Goethes bevorzugter Vertoner seiner Lyrik war. Reichardts Verfahren war so simpel wie einleuchtend: «Meine Melodien entstehen jederzeit aus wiederholtem Lesen des Gedichts von selbst, ohne dass ich darnach suche» (1779). Was dabei herauskommt, ist ein schlichter Vortrag des Gedichts, die Erfindung einer Melodie, die etwa die Mitte zwischen melodischer Deklamation und verständigem Vortrag des Gedichts mit einfacher musikalischer Begleitung hält. Die Musik bleibt in der Regel über alle Strophen der Textvorlage hinweg gleich. Ähnlich verfuhr, nicht ohne Kunstlosigkeit, später auch Carl Friedrich Zelter, mit dem Goethe im Alter sogar eng befreundet war. So etwas lag genau auf Goethes Wellenlänge: dass ein Gedicht nicht einfach nur nüchtern gesprochen, sondern sozusagen «auf Flügeln des Gesanges» in die Welt hinausgelassen wird. Dabei verharrt aber die Musik stets in dienender Rolle. Was dabei dann unbeschädigt und stets im Vordergrund bleibt, ist das Gedicht selbst. Was Goethe klar bemerkte, ist die Tatsache, dass hingegen eine zu dominante Musik das Gedicht in den Schatten stellt – für einen Dichter alles andere als erfreulich. Seien wir ehrlich: Wofür lieben wir Lieder? Für den zugrundeliegenden Text oder für die Musik? Bestenfalls für beides, aber ein solches Gelingen gehört zu den seltenen Glücksfällen, vielleicht in Schumanns/Eichendorffs «Mondnacht», einem unvergleichlichen Kunstwerk, in dem man die einzelnen Bestandteile kaum noch voneinander lösen kann. Man muss es klar sagen: Lyrik und Musik unterhalten zueinander kein friedlich-harmonisches, sondern ein höchst problematisches Verhältnis. Machen wir uns klar, was Goethe an Schubert gestört haben könnte: Eines seiner schönsten, in seiner Schlichtheit ungemein kunstvollen und raffinierten und daher mit Recht berühmten Gedichte gehörte zu der Sammlung, die der junge Schubert 1816 voller Stolz an Goethe geschickt hat: «Wandrers Nachtlied».

     

    Über allen Gipfeln

    Ist Ruh›.

    Über allen Wipfeln

    Spürest du

    Kaum einen Hauch;

    Die Vögelein schweigen im Walde,

    Warte nur, balde

    Ruhest du auch.

     

    Die Exquisitheit dieser kleinen, scheinbar so schlichten Kostbarkeit, kann hier nur mit wenigen Zügen angedeutet werden: Metrisch exakt gleiche Verse (1 und 3) wechseln mit unregelmässigen (2 und 4, wobei der Vers 2 mit seinen zwei Silben das absolute Minimum des Notwendigen bringt), das Reimschema variiert auf kleinstem Raum (abab-cddc), dem minimalistischen Vers 2 kontrastiert der Vers 6 aufs Schärfste, obwohl in beiden von nichts als Stille die Rede ist, und so weiter. Also maximale Verlebendigung und Variation beim Eindruck maximaler Ruhe: als in sich pulsierendes, völlig unsymmetrisches und dennoch perfekt rundes Formgebilde absolut ingeniös. Was macht nun Schubert mit diesem Gedicht? Er setzt es Zeile für Zeile in Musik, in jeweils andere und passende Musik, und es entsteht daraus ein ungeheuer schönes Lied. Aber er vertont es, als vertone er gesprochene Sprache und nicht etwa das Kunstgebilde eines lyrischen Gedichts. Wenn Sie Goethes Gedicht nicht kennen würden: Aus Schuberts Lied könnten Sie es in seiner besonderen ästhetischen Form nie rekonstruieren. Damit sind wir beim Kern der Problematik: Gedichte sind Sprach-, Klang- und Formkunstwerke, Lieder hingegen sind MUSIKALISCHE, nicht sprachliche Kunstgebilde. Damit Schubert sein grossartiges Lied schaffen kann, muss er dem Goetheschen Gedicht seine Form rauben und es auf das Grundgerüst von Sprache zurückführen. Von diesem Fundament aus baut er dann sein Lied – nun sozusagen als «musikalische Lyrik» – ganz neu auf. Goethe hat recht: Er erkennt sein eigentliches Gedicht hinter, unter oder in der Vertonung nicht wieder. Das ist die berühmte und provokante These des Schubert-Forschers Thrasybulos Georgiades: Was Schubert betreibt, ist nichts anderes als produktive Zerstörung, schöpferische Destruktion.[1] Das Lied trägt nicht das intakte Gedicht wie auf dem Silbertablett vor sich her, sondern es lebt durch das Gedicht, geradezu auf Kosten des Gedichts. Schwer zu schlucken, aber wahr: Das Verhältnis von Lyrik und Musik im Lied ist oft nicht harmonisch, sondern agonal.

    Zugegeben: Das ist ein Extrembeispiel, und nicht alle Lieder sind so. Der Gerechtigkeit halber muss man hinzufügen, dass Goethe nicht der einzige Dichter war, dem gewisse Vertonungen seiner Lyrik bisweilen suspekt erscheinen konnten. Von Dichtern wie Eichendorff oder Rückert sind ähnlich skeptische Reaktionen überliefert – selbst von Schumanns (für uns vollkommen kongenialen) Vertonungen waren sie nicht immer und nicht rundweg begeistert. Sehr salopp könnte man sagen: Der Dichter ist halt eine empfindliche Seele, manchmal geschmeichelt durch eine Vertonung, manchmal aber auch genervt – und wer ihn als Komponist später um seine Meinung fragt, ist selbst schuld. Das verändert nun aber doch unseren Blick auf die so geliebte Kunstform des Liedes. Man spricht gern von Kongenialität. Aber was soll das eigentlich bedeuten? Vordergründig heisst das: das Gedicht ist genial, und die dazu geschriebene Musik ist es auch. Schubert ist der kongeniale Vertoner von Goethes Lyrik, Schumann derjenige von Heine oder Eichendorff. Bei näherem Zusehen hat sich aber die Genialität der Musik an die Stelle der Genialität des Gedichts gesetzt; sie hat das Gedicht verschluckt. Das ist sehr beunruhigend, und ich kann Ihnen sagen, dass dies auch nicht das letzte Wort bleiben muss. Aber dazu später. Schauen wir uns daraufhin erst einmal einige Statements späterer Komponisten an, die diesen Befund durchaus bestätigen. Unter ihnen sind einige regelrecht überraschend, ja sogar geradezu schockierend

    Nehmen wir etwa die folgende Äusserung von Hugo Wolf. Sie steht am Ende jenes 19. Jahrhunderts, das durch Schuberts Liedkunst eröffnet worden ist, und Hugo Wolf ist zweifellos jemand, dessen Rang als Liedkomponist sich vor demjenigen Schubert nicht verstecken muss. Entscheidend ist, dass er genau das von uns fokussierte Problem adressiert, wobei seine Formulierung an Drastik kaum zu überbieten ist:[2]

     

    Es liegt etwas Grausames in der innigen Verschmelzung von Poesie und Musik, wobei eigentlich nur der letzteren die grausame Rolle zufällt. Die Musik hat entschieden etwas Vampyrartiges in sich. Sie krallt sich unerbittlich an ihr Opfer und saugt ihm den letzten Blutstropfen aus. Oder man könnte sie auch mit einem gierigen Säugling vergleichen, der unerbittlich nach neuer Nahrung verlangt, dick und fett dabei wird, derweil die Schönheit der Mutter dahinwelkt.

     

    Man muss sich also fragen: Setzt Musik dem Gedicht überhaupt etwas Wertvolles hinzu? Oder entnimmt sie ihm vielmehr die ästhetische Energie, um selbst existieren zu können? Lebt sie also auf Kosten des Gedichts?

    Vielleicht aber stellt sie sich auch ungewollt selbst in den Schatten einer unüberbietbaren Qualität, wenn sie sich auf einen Dichter wie Goethe einlässt und zu ihm dann eigentlich nur Entbehrliches, wenn nicht sogar Überflüssiges beisteuern kann? So hat es etwa Gustav Mahler gesehen, der ganz anders als etwa Robert Schumann oder Hugo Wolf die Vertonung von vollkommener Poesie als ganz unmöglich, wenn nicht sogar als frevelhaft empfand. Das belegt eine Gesprächsäusserung Mahlers, die Ida Dehmel (im März 1905) in ihrem Tagebuch festgehalten hat:[3]

     

    Es käme ihm auch immer wie Barbarei vor, wenn Musiker es unternähmen, vollendet schöne Gedichte in Musik zu setzen. Das sei so, als wenn ein Meister eine Marmorstatue gemeisselt habe und irgendein Maler wolle Farbe darauf setzen. Er, Mahler, habe sich nur einiges aus dem Wunderhorn zu eigen gemacht; zu diesem Buch stehe er seit frühester Kindheit in einem besonderen Verhältnis. Das seien keine vollendeten Gedichte, sondern Felsblöcke, aus denen jeder das Seine formen dürfe.

     

    Eine gute und wichtige Frage: Darf sich die Musik überhaupt an etwas so Perfektem wie einem Goethe-Gedicht vergreifen? Mahler, der als Liedkomponist bekanntlich mehr als ein Jahrzehnt lang nur mit Gedichten aus Des Knaben Wunderhorn gearbeitet und seine eigenen Texte (etwa die Lieder eines fahrenden Gesellen oder das Klagende Lied) gekonnt dieser Sprachsphäre angepasst hat, machte als Liedkomponist um die Lyrik Goethes zeitlebens einen grossen Bogen. Die (meistens anonym überlieferten) Gedichte aus Des Knaben Wunderhorn hingegen empfand er als grossen Steinbruch, aus dem jeder Komponist das ihm Passende herausholen und zurechtmeisseln konnte. (Dass er dann später die Wunderhorn-Texte hinter sich liess und sich stattdessen nun doch auf einen grossen lyrischen Dichter (Friedrich Rückert), und zwar ausschliesslich auf diesen, einliess, ist bemerkenswert und zumindest ein Grund zum Staunen und Fragen.)

    Ein Komponist kann im Gegenteil aber auch offensiv die absolute Autonomie des eigenen Handelns gegenüber der lyrischen Vorlage betonen. Das hätte freilich eben so wenig Goethes Zustimmung gefunden. So schreibt etwa Arnold Schönberg 1912:[4]

     

    Ich war vor ein paar Jahren tief beschämt, als ich entdeckte, dass ich bei einigen mir wohlbekannten Schubert-Liedern gar keine Ahnung davon hatte, was in dem zugrunde liegenden Gedicht eigentlich vorgehe. Als ich dann die Gedichte gelesen hatte, stellte sich für mich heraus, dass ich für das Verständnis dieser Lieder gar nichts gewonnen hatte, da ich nicht im Geringsten durch sie genötigt war, meine Auffassung des musikalischen Vortrags zu ändern. Im Gegenteil: es zeigte sich mir, dass ich, ohne das Gedicht zu kennen, den Inhalt, den wirklichen Inhalt, sogar vielleicht tiefer erfasst hatte, als wenn ich an der Oberfläche der eigentlichen Wortgedanken haften geblieben wäre. Noch entscheidender als dieses Erlebnis war mir die Tatsache, dass ich viele meiner Lieder, berauscht von dem Anfangsklang der ersten Textworte, ohne mich auch nur im geringsten um den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge zu kümmern, ja ohne diese im Taumel des Komponierens auch nur im geringsten zu erfassen, zu Ende geschrieben und erst nach Tagen darauf kam, nachzusehen, was denn eigentlich der poetische Inhalt meines Liedes sei. Wobei sich dann zu meinem grössten Erstaunen herausstellte, dass ich niemals dem Dichter voller gerecht worden bin, als wenn ich, geführt von der unmittelbaren Berührung mit dem Anfangsklang, alles erriet, was diesem Anfangsklang eben offenbar mit Notwendigkeit folgen musste.

     

    Schönberg behauptet also, «berauscht von dem Anfangsklang der ersten Textworte», an Schubert-Liedern neben der Musik das vertonte Gedicht kaum wahrgenommen und es dennoch angemessen, wenn nicht sogar tiefer als beim reinen Lesen verstanden zu haben. Und sein eigenes Komponieren funktioniert angeblich genauso. Das kann nichts anderes bedeuten, als dass die Musik den Gehalt des Liedes weit besser erfasst und angemessener transportiert als jede noch so gute, aber immer auf die Textworte konzentrierte Deklamation. Eine starke Behauptung! Interessante Konsequenzen ergeben sich daraus nicht zuletzt für die praktische Interpretation, also für das Singen solcher Lieder. Stehen zum Beispiel Textverständlichkeit oder aber Tonschönheit im Vordergrund? Das Letztere wäre die logische Konsequenz. Aber will man sie wirklich? Wer würde zum Beispiel der Schubert›schen «Winterreise» folgen können, wenn nicht jedes einzelne Wort der Gedichte sauber verständlich wäre?

    Das ist nur eine kleine Auswahl von Problemen, die «das Lied» bei näherer Betrachtung bietet. Und eine einfache Lösung gibt es nicht. Offenbar entsteht im Lied etwas jenseits des Gedichts und über es hinaus, das sich nicht im Textvortrag erschöpft. Vielleicht kann man es als Interpretation des Gedichts fassen – aber als eine von vielen möglichen. Schumann hat einmal den Anspruch an sich selbst formuliert, als Liedkomponist für jeden seiner Dichter einen ganz eigenen, unverwechselbaren «Ton» (gemeint ist: Tonfall) zu finden: etwa einen Heine-, einen Rückert- und einen Eichendorff-Ton. Bei Schubert ist es ähnlich: Seine Rückert- und Platen-Lieder klingen anders als seine Goethe-, anders auch als seine Heine- und Müller-Lieder – ohne dass dies aber so einfach exakt zu definieren wäre. Und man muss wohl zudem auch sehen, dass nicht für alle Epochen und alle Komponisten ein und dasselbe Schema gilt. Um das Feld etwas übersichtlicher zu machen, hat der amerikanische Kulturwissenschaftler Lawrence Kramer eine Typologie vorgeschlagen, mit der sich etwas mehr Ordnung in die verwirrende Vielfalt der möglichen Beziehungen zwischen Poesie und Musik bringen lässt:[5]

     

    1.     «assimilation» (Angleichung der Musik an das Gedicht)

    2.     «appropriation» (Ausbeutung des Gedichts durch die Musik)

    3. «deconstruction» (schöpferische Zerstörung des Gedichts und Neuaufbau als musikalische Lyrik)

    4.     «relative independence» (friedliche Koexistenz von Gedicht und Musik)

     

    Überlegen Sie selbst, wohin Sie die Ihnen bekannten oder von Ihnen geliebten Lieder zuordnen würden. Wahrscheinlich sind im Oeuvre eines jeden guten Komponisten alle vier Typen vertreten, und man muss jeweils im Einzelfall entscheiden. Aber muss man überhaupt entscheiden? Man kann es ja, was durchaus reizvoll ist, in der Schwebe lassen. Oder aber man kann es mal so, mal so hören.

    Von diesen Überlegungen aus gelangen wir zu drei höchst interessanten Fragen.

    1: Ist wirklich jedes Lied als Kunstwerk einzigartig? Zum Beispiel hat schon 1817 der Zürcher Komponist Hans Georg Nägeli behauptet, dass es «nie zwey Gedichte geben kann, wozu dieselbe Musik passen würde».[6] Stimmt das wirklich? Immerhin werden ja verschiedene Volks- und Kirchenlieder auf dieselbe Melodie gesungen, ohne dass dies jemanden stört. Aber hier befinden wir uns eben noch in der Sphäre der melodisch-gehobenen Deklamation, ohne dass sich die Musik als eigenes autonomes Gebilde etablieren will. Wenn das Lied, als Kunstlied, wirklich als DIE angemessene Interpretation eines Gedichts gelten will, dann kann sein Text nicht einfach ausgetauscht werden. Das also kann man vielleicht als ein definierendes Moment des Kunstlieds herausfiltern: Es ist ein musikalisch autonomes Gebilde, aber es braucht exakt diesen seinen Text als Grundlage dieser Autonomie. So autonom wie vorhin behauptet ist seine Musik also doch nicht.

    2: Kann es denn, wenn man von Kongenialität redet, von einem guten Gedicht überhaupt mehrere gleich gültige Vertonungen geben? Die Antwort lautet: eindeutig Ja. Das ist sogar innerhalb eines und desselben Oeuvres der Fall: Schubert hat von vielen Goethe- und Schiller-Gedichten mehrere Versionen komponiert, und es fällt uns schwer, eine als die Beste auszuwählen. Und es gibt endlos viele Vertonungen desselben Heine-Gedichts: von Mendelssohn, Schumann, Liszt, Robert Franz und anderen – alle auf ihre Weise berechtigt und gut. Den Begriff der Kongenialität können wir also eigentlich ad acta legen. Oder aber: Keine Vertonung kann aus einem Gedicht alles in ihm Liegende auf einen Schlag herausholen. Kein gutes Gedicht wird durch eine einzige Vertonung ausgeschöpft.

    3: Braucht es für ein gutes Lied als Vorlage auch ein gutes Gedicht? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Sie alle kennen sicherlich überwältigend schöne Lieder nach zweit- oder drittklassigen Gedichtvorlagen. Ein bekanntes Beispiel ist die wunderbare «Feldeinsamkeit» von Johannes Brahms. Der Dichter, Hermann Allmers, hat sich später darüber beschwert, dass Brahms sein Gedicht verdorben habe. Nun ja: Heute würde ohne die Vertonung des Gedichts durch Brahms den Namen Hermann Allmers niemand mehr kennen. Er überlebt im Brahms-Lied wie die sprichwörtliche Fliege im Bernstein. Ebenso würde heute niemand mehr die Dichternamen zahlreicher Freunde Schuberts kennen, wenn diese nicht das Glück gehabt hätten, einen unsterblichen musikalischen Poeten an ihrer Seite zu haben. Die Qualität eines Gedichts und die Qualität einer Vertonung haben nichts (oder jedenfalls nur wenig) miteinander zu tun. Das wiederum scheint für die Autonomie, die Selbständigkeit der Musik zu sprechen – die im Lied dennoch auf eine Textgrundlage angewiesen bleibt. «Lieder ohne Worte» – ein überaus raffinierter und hintersinniger Gattungstitel! – gibt es erst seit Mendelssohn.

    Neuerdings gerät sogar der von uns gern benutzte Begriff der «Vertonung» in Verruf. Der zeitgenössische Schweizer Komponist Heinz Holliger hat vor zehn Jahren in einem Interview gesagt: «Schon das Wort ‹vertonen› hat etwas Brutales, etwas wirklich Aggressives: etwas zerstören, ‹zertonen›. Ich hoffe, ich habe nie in meinem Leben etwas ‹ver-tont›.»[7] Nun ja, wir haben gesehen, dass Holliger in allem irgendwie recht hat, dass aber dennoch kein Grund zur Panik besteht. Zum Wesen des Liedes gehört eben genau dies alles hinzu.

    Das Lied macht es einem also nicht leicht. Es ist eine besondere, aber eben leider auch komplizierte Kunstform. Es ist mit einem einzigen ästhetischen Zugriff, mit irgendeiner Faustregel, mit einer bequemen Passepartout-Definition nicht zu fassen. Bei näherem Zusehen offeriert es den Blick in ein Feld von Problemen. Ich würde nun aber behaupten: Das ist nicht schlimm. Ein gutes Lied ist kein einfaches Genussmittel, sondern es zieht einen ins Nachdenken hinein, es verlangt nach immer neuer Beschäftigung. Mein Fazit lautet also: Das Lied ist kein friedlich-harmonisches Gebilde, bei dem man sich ausruhen und bei dem man genussvoll verweilen kann, sondern – für meinen Geschmack viel attraktiver – ein unendlich weiter, in sich widersprüchlicher, spannungsvoller Möglichkeitsraum. Gerade dies aber macht «das Lied» zu einer unersetzlichen Kostbarkeit.

    [1] Thrasybulos Georgiades, Schubert. Musik und Lyrik, Tübingen 1969.

    [2] Hugo Wolf an Rosa Mayreder, 16.6.1896, in: Wolf, Briefe an Rosa Mayreder, Wien 1921, S. 82.

    [3] Zitiert bei Alma Mahler-Werfel, Erinnerungen an Gustav Mahler [1940], hrsg. von Donald Mitchell, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1971, S. 121.

    [4] Schönberg im Blauen Reiter 1912 (Neuausgabe S. 65 f.).

    [5] Lawrence Kramer, «Beyond Words and Music. An Essay on Songfulness». Word and Music Studies. Defining the Field. Proceedings of the First International Conference on Word and Music Studies at Graz, 1997. Hrsg. von Walter Bernhart et al. Amsterdam und Atlanta 1999. 303–319.

    [6] Hans Georg Nägeli, «Historisch-kritische Erörterungen und Notizen über die deutsche Gesangs-Cultur. I. Die Liederkunst». Allgemeine musikalische Zeitung 13 (1811): Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1811. Spalten 629ff.; «Fortsetzung und Beschluß». Allgemeine musikalische Zeitung 19 (1817): Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1817. Spalten 761ff

    [7] Heinz Holliger und Heidy Zimmermann, «Ich hoffe, ich habe nie in meinem Leben etwas ‚ver-tont‘. Heidy Zimmermann im Gespräch mit Heinz Holliger». Holligers Walser. Der Komponist und sein Dichter. Hrsg. von Heidy Zimmermann. Mainz 2014, S. 15–39, hier S. 17.