Wandel und Disruption

Vortrag

Die Affirmation des Wandels hat zuletzt eine erstaunliche Zuspitzung erfahren: Statt achtsamer Anpassung des Gewohnten ist ‹Disruption› das Schlagwort der Stunde. Die Neuerung soll so grundlegend sein, dass sie das bisher Dagewesene in Gänze abzulösen in der Lage ist. Spätestens mit der Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat dieses Denken auch die Politik erreicht. Woher aber kommt die Begeisterung für den radikalen Bruch? Ist sie der Fortschritt, den wir brauchen? Das Tor in eine große Zukunft? Oder doch Rückfall in die (kybernetisch optimierte) Barbarei? Diesen Fragen diskutieren wir mit Fabian Goppelsröder in unserem ersten Salon.

Fabian Goppelsröder
Im Rahmen des Salons «Wandel als Rückschritt»

Gestern ging es um Wandel und Erneuerung, um die positive Sicht auf den Wandel, die Sicht, die in gewisser Weise auch mit der Romantik und dem romantischen Lied verbunden ist. Es ging um die Verzauberung der Welt, um die Liebe als positive kraft der Veränderung…
Heute sollen wir über Wandel und Rückschritt diskutieren, also eher ein vielleicht zunächst kontraintuitives Thema. Und wir wechseln damit – zumindest in meinem Impuls – auch deutlich die Zeit, rücken aus dem 19. ins 20. Jahrhundert vor und näher an die Gegenwart heran.

  • Denn was mich in diesem Zusammenhang besonders interessiert, ist im Grunde ein Aktualitätsphänomen, eine Entwicklung, die wir gegenwärtig miterleben und deren Teil wir sind: Die Affirmation des Wandels hat zuletzt eine erstaunliche Zuspitzung erfahren: Statt achtsamer Anpassung des Gewohnten ist ‹Disruption› das Schlagwort der Stunde. Spätestens mit der Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat dieses

    Denken auch die Politik erreicht. Woher kommt diese Begeisterung für den brutalen Bruch? Und ist sie noch Zeichen der Bereitschaft, zu lernen, sich zu entwickeln oder schon Rückfall in die (man könnte sagen: kybernetisch optimierte) Barbarei?

    Die Frage, ob Wandel positiv oder negativ zu bewerten ist, stellt sich, so scheint es,

    heutzutage eigentlich nicht mehr. Die Fähigkeit zum Wandel ist entscheidend, um mit der schnellen Folge an Veränderungen, die unsere Zeit bestimmt, mithalten zu können. Und manchmal muss man diesen Wandel auch ganz direkt herbeiführen, ihn provozieren und dabei die Veränderung geschickt zu kontrollieren wissen. Inwiefern hier vorsichtige Modulation oder harter top-down Dezisionismus walten sollte, ist eine Frage, die seit der vielleicht wichtigsten philosophischen Aufwertung von Wandel und Veränderung im 20. Jahrhundert im Raum steht: Der US-amerikanische Mathematiker und Philosoph Norbert Wiener gab mit seinem 1948 veröffentlichten Buch Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine einer neuen Denk- und Forschungsrichtung ihren Namen: der „Kybernetik“.

    Ihr sollte es um die Steuerung und Regelung von Maschinen gehen – die Wiener wiederum analog zur (Selbst-)Steuerung und (Selbst-)Regelung (lebender) Organismen und (sozialer) Organisationen verstand. Wie diese, so Wieners Kerngedanke, sind auch Maschinen keine Automaten im klassischen Sinn. Man darf sie nicht (wie noch im 18. Jahrhundert Gottfried-Wilhelm Leibniz) als Uhrwerk verstehen, das, einmal aufgezogen, vollständig getrennt von seiner Umwelt vor sich hintickt. Maschinen werden vielmehr dann interessant, wenn sie mit ihrer Umwelt über Sensoren verbundene, anpassungsfähige, kurz: wandelbare und sich ständig wandelnde Systeme sind. Wiener hatte seine Überlegungen insbesondere im Zusammenhang ballistischer Versuche im Rahmen militärischer Forschung zur Flugabwehrtechnik während des ersten und zweiten Weltkrieges entwickelt. Und doch ging es ihm von Anfang um mehr. Es ging ihm um ein grundsätzliches Umdenken. Kontrolle und Stabilität dürften nicht mehr als Effekt statischer Hierarchien vorgestellt werden. Wirkliche Kontrolle und Stabilität gebe es in einer sich ständig verändernden Realität allein, wenn eine Feedbackschlaufe es ermöglicht, den Zustand des Systems, seine Operationen ständig auf die aktuellen Umweltbedingungen hin anzupassen. Wie der Steuermann – griechisch «Kybernetes»! – sein Schiff nur dann sicher ans Ziel bringen wird, wenn er in jedem Moment der Reise in der Lage ist, auf Wind und Wetter zu reagieren, die Segel entsprechend zu setzen, den Kurs an den Wellengang anzupassen, so sei für jedes beliebige organische, soziale oder technische System diese flexible Anpassung entscheidend für sein Fortbestehen.

    Über ihre wissenschaftshistorische Wichtigkeit hinaus bedeutet Wieners Kybernetik letztlich auch einen gesellschaftlichen Aufbruch. So steht sie – etwas pointiert gesprochen – am Beginn einer der wichtigsten kulturellen Verschiebungen der Menschheit, der Wandlung unserer analogen Welt zu dem, was wir entgegen alltäglicher Evidenz immer noch mit einem Spartenbegriff bezeichnen: zur sogenannten Cyber-Culture (Cybernetics -> Cyber…). 

    Die imaginative Kraft, die dieses neue Denken trägt, sollte sich auch im Boom der kybernetisch inspirierten Science Fiction der 1960er und 70er Jahre zeigen… Martin Caidins Roman „Cyborg“ (ein Akronym von Cybernetic Organism) über das Schicksal von Colonel Steve Austin wurde spätestens mit seiner Verfilmung in der US-Fernsehserie The Six Million Dollar Man zum Template der populären Cyborg-Vorstellung bis heute. Nach einem Flugzeugabsturz kann dem schwerverletzten Austin das Leben nur in einer sechs Millionen Dollar teuren Operation gerettet werden, in der ihm unter anderem ein Auge, ein Arm und beide Beine durch kybernetische Spezialprothesen ersetzt werden. Er wird zum bionischen Übermenschen und zum Spezialagenten des «Office of Scientific Intelligence». Der um ein Haar tödliche Unfall wird zum Ausgangspunkt einer besseren bzw. optimierten persönlichen und auch gesellschaftlichen Zukunft und der Roman zur Erzählung über die beinah unbeschränkte Modifizierbarkeit des menschlichen Körpers.

    Zugespitzt ließe sich sagen: Caidins «Cyborg»-Story verdichtet – vielleicht zum ersten Mal – das Denken der Disruption: «To disrupt» bedeutet «unterbrechen» bzw. eigentlich «zerstören». Drastischer als in der Zerstörung des eigenen Körpers kann man den Bruch mit dem herkömmlichen, alten, gewohnten und vertrauten Leben nicht erfahren. Caidin verbindet diesen Bruch mit dem Wandel bzw. der technischen Verwandlung von Austins Körper in einen übermenschlichen Cybernetic Organism und lässt in der Zerstörung des Alten (des Gewohnten, des Standards) dieses Alte selbst als defizitär erscheinen. 

    Zugleich war die Science Fiction mit ihren Ideen und Visionen nie einfach nur die ‹Bubble Fantasy›, die spinnerte Idee der Geeks und Techies. Gerade in der amerikanischen Alternativkulturbewegung wurde die technologische Vernetzung durch das Internet als eine Art Komplementär zur psychischen Entgrenzung durch LSD verstanden. Counter- und Cyberculture waren in der Zeit um und nach ’68 eng verbunden. Und es ist diese Mischung – so meine These –, die den Siegeszug der neuen Medien zu einer kulturellen Revolution hat werden lassen können. Figuren wie der Counter-Culture-Entrepreneur Stewart Brand haben ihre Vision einer anderen Gesellschaft immer mit dem Bemühen verbunden, «access to tools» zu schaffen, wie es im Untertitel des von ihm herausgegebenen Whole Earth Catalog hieß, also dadurch ein selbstbestimmtes, von den herrschaftspolitischen Institutionen weitgehend freies und autarkes Leben führen zu können, dass einem die notwendigen Mittel und Werkzeuge an die Hand gegeben werden.

    Und eines der wichtigsten dieser Werkzeuge war (und ist?) die universelle Maschine, der Computer (PC), eine Maschine also, die in bestem Wiener’schen Sinne hyperflexibel und wandelbar auf alle möglichen Aufgaben anwendbar ist. Mit dem Computer und seiner quasi unbeschränkten Vernetzbarkeit scheint sich die mediale Infrastruktur zu realisieren, die eine Kultur der flachen Hierarchien und des permanenten Wandels möglich machen sollte und die tatsächlich in unsere Gegenwart des digitalen Hyperkapitalismus geführt hat, wie es Michael Mayer vor kurzem nannte. Es gäbe eine Menge ökonomischer oder auch popkultureller Verschiebungen und nicht zuletzt auch eine Reihe persönlicher Erfolgsgeschichten, entlang derer sich diese Entwicklung seit den 1970er Jahren ganz gut nachvollziehen ließe.

    Steve Jobs wäre als Apple-Gründer und Prophet der schönen neuen digitalen Welt auch deswegen eines der wahrscheinlich wichtigsten Gesichter dieser Erzählung, weil sich in seiner Person das Erbe der Gegenkultur zu einer neuen Form des visionären Tech-Unternehmertums gewissermaßen sublimierte und ihm bis heute eine quasi-religiöse Stellung im Silicon-Valley-Kosmos einbrachte. Ich gehe da jetzt nicht im Detail drauf ein. Lediglich soviel: Nur weil Leute wie er es verstanden, die neuen technologischen Möglichkeiten der Computerindustrie in ihrer alltäglichen, lebensweltlichen und sozialen Dimension zu imaginieren und diese Vision als Vision einer neuen Gesellschaft umzusetzen, lässt sich heute tatsächlich von einem Zeitalter der Digitalisierung bzw. von einer Kultur der Digitalität sprechen. Es waren Leute wie Steve Jobs, ihr organisatorisches und werbetechnisches Geschick, das uns dazu gebracht hat, Arbeit und Freizeit, Kommunikation und Leben überhaupt als Abfolge von möglichst reibungslos ineinandergreifenden Gesten zu verstehen. 

    Die traurige Pointe dieser Entwicklung ist allerdings, dass der Impuls der frühen Kybernetik, Wandel in und durch die Berührung mit dem Außen herbeizuführen, nun nur noch systemimmanent gedacht wird: Das Feedback, die Rückkopplung besteht allein zwischen Teilen eines holistischen systemischen Zusammenhangs (iTunes, iCloud, …, totale Integration…). Die sich daraus ergebende Ästhetik, die auch unsere soziale Imagination bestimmt, ist nicht mehr eine der Widerständigkeit, sie kann es gar nicht sein, sondern eine der endlosen Optimierung. Wir werden immer mehr zu einer Variante von Caidins Cyborg.

    Wohin das alles führen kann zeigt aktuell das Beispiel Elon Musk. Wandel und Disruption sind für ihn Mittel, um erst die Produktionsprozesse und nun auch noch die Politik neu aufzustellen, schlank und effizient zu machen und dabei tatsächlich alles, was man menschlich oder auch zwischenmenschlich nennen könnte, wegzurationalisieren. Eine erkennbar gefährliche Entwicklung.

    Die Hoffnung der Counterculture auf eine auch durch die technologische Entwicklung mögliche gewordene offene und unhierarchische Gesellschaft hat sich, so scheint es, über den Erfolg des Silicon-Valley-Kapitalismus politisch zu einer Form der kybernetischen Kontrolle entwickelt, deren Gefahren Gilles Deleuze oder auch das französische Autorenkollektiv Tiqqun schon vor Jahren beschrieben haben. Vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Entwicklung lassen sich diese wohl als die Gefahr eines globalen Faschismus 2.0 zusammenfassen. Die Ideologie des Wandels wird zum Katalysator des Rückfalls in die – kybernetisch optimierte – Barbarei.