Dieses freakige Moment der Irritation
Ein literarischer Nachklang
Liedfest Zürich wird von wechselnden Kunstschaffenden begleitet, die ihre Erinnerungen an das Gesehene und Gehörte in verschiedenen Formaten verarbeiten. So entsteht jeweils ein bildnerischer, schriftlicher, oder musikalischer Nachklang, der das Erlebte nicht nur dokumentiert, sondern durch eine individuelle Perspektive und einen starken künstlerischen Zugriff in ein neues Licht rückt. Hier reflektiert der Schriftsteller Alexander Estis seinen Besuch des Salons «Wandel und Erneuerung: Aufbrüche».
Alexander Estis
Zum Salon «Wandel und Erneuerung: Aufbrüche»
Jonas ist Performancekünstler. Mehr noch: Er ist Performancekünstler in Berlin.
Da der Name Jonas zu spiessig und abgegriffen ist, lässt sich Jonas anders nennen, nämlich Jon; das wollen wir natürlich respektieren und ihn von nun an ebenfalls Jon nennen.
Seine Freundin heisst Lee Ann. Sie ist Designerin. Wovon, das weiss auch Jon nicht so genau, und selbst Lee Ann nicht. Gemeinsam leben Jon und Lee Ann eine lose, offen polyamore Beziehungskonstellation, mit dem Ziel, auf den Reiz des Neuen – wie sie übereingekommen sind – nicht verzichten zu müssen. Für Lee Ann besteht die polyamore Beziehungskonstellation aus Jon, Gonzalo, Manuel, Arman, Mina und manchmal, besonders wochenends, auch aus anderen. Für Jon besteht die polyamore Beziehungskonstellation aus Lee Ann.
Gemeinsam pflegen Lee Ann und Jon ein legeres Understatement, indem sie sich hipstermässig oder sogar posthipstermässig mit, wie sie sagen, «altem Zeug» aus der neuesten Vintage-Kollektion benachbarter Berliner Boutiquen einkleiden. Ab und zu überholen sie mit ihren Elektronikkäufen Apples geplante Obsoleszenzwellen, die sie selbstverständlich als umweltschädliche kapitalistische Masche entlarven. Noch vor dem europäischen Trend verwenden sie frische amerikanische Hashtags, wenn sie auf Plattformen posten, die andere noch gar nicht kennen: «Wow, ihr nutzt das noch immer…?»
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Was die Arbeit angeht, ist Jon ebenfalls stets up to date. Seine Arbeit nennt Jon «künstlerische Forschung», und Forschung muss, das ist offensichtlich, stets up to date sein. Seine Forschung ist oftmals so innovativ, dass selbst die Wirklichkeit hinterherhinkt. In seinen Performances sucht er nach dem Unerwarteten, Unbekannten, Unerhörten. Jon ist gegen unflexibles Denken, gegen Gesetze, gegen starre Strukturen und Routinen, gegen die Wiederholung des Immergleichen. Denn Kunst soll aufrütteln, Kunst soll verändern. Kunst soll – hier zitiert er gern einen Grossen, wen genau, hat er vergessen, daher bringt er den Spruch meist, als wär es sein eigener – Kunst soll nicht informieren, sondern deformieren. «Wer braucht schon eine Kunst ohne dieses freakige Moment der Irritation?», pflegt er dann rhetorisch zu fragen, mit leicht postironischem Unterton. Er sucht das Unbekannte, Unerwartete, Unerhörte, und er findet es auch – zumindest das Unerhörte, das ihm einen gewissen Erfolg einbringt.
Noch grösseren Erfolg allerdings bringt ihm ein, dass er in seinen Förderanträgen, Werkbeschreibungen, CVs und artist statements immer die neuesten Schlagworte einzubinden versteht. Kaum hat sich das Karussell der Modebegriffe weitergedreht, von «Sprache» zu «Raum», von «Digitalität» zu «Medialität», von «Netzwerk» zu «Rhizom», von «Jüdischem Leben» zu «Globalem Süden», von «Integrieren» zum «Dekolonialisieren», von «Identität» zu «Transgression», springt er geschickt auf den neuesten Favoriten auf.
Jon versucht, marginalisierte Lebensformen sichtbar zu machen und Stimmen zu Gehör zu bringen, die sonst ungehört bleiben. Und das ist ihm durchaus hoch anzurechnen, zumindest sooft er die Namen der Urheber nennt, was manchmal durchaus passiert. Dabei sieht er sich als Kurator, der «Räume ermöglicht». Manchmal spielt er mit dem Gedanken, auf seine Visitenkarte die
Berufsbezeichnung space curator drucken zu lassen, kommt aber immer wieder zu dem Ergebnis, das sei dann doch etwas zu prätentiös.
Überhaupt erfüllt all das natürlich ein nicht mehr ganz neues Klischeebild, aber ein Klischee muss nicht unbedingt neu sein, um nach wie vor zuzutreffen. Und auch Jon ist das durchaus bewusst. Noch bewusster wird es ihm, als ihn Lee Ann plötzlich verlässt, und das obwohl sie eine offene Beziehungskonstellation leben. Lee Ann verlässt ihn, um, wie sie sagt, aus den eingefahrenen Routinen ihrer Koexistenz auszubrechen, aus den heteronormativen Beziehungsstrukturen, die an sich schon etwas Reaktionäres haben. Sie brauche Veränderung, Wandel sei ihre Natur. Sie wolle sich nun ganz dem Neuen widmen.
Der Neue hat, wie sich bald herausstellt, ein IT-Startup und eine Villa in Brandenburg. Ein halbes Jahr später heiratet er Lee Ann, neun Monate später bekommen sie ein Kind – das erste von drei.
Das weiss Jon natürlich noch nicht, aber er weiss genug, um dem Wort «neu» fortan eine Prise Misstrauen, wenn nicht sogar Missbilligung entgegenzubringen, die sich mit der Zeit auch auf das gesamte Streben nach Novität zu erstrecken beginnt. Nun zweifelt er daran, dass es richtig sei, dem Neuen gegenüber dem Alten stets Vorrang zu geben. Nun liest er Literatur zum Thema – oder zumindest eine digitale Zitatsammlung.
Er liest Schopenhauer: «Das Neue ist selten das Gute; weil das Gute nur kurze Zeit das Neue ist.»
Er liest Lessing: «Nur Neues liebest du? nur Neues willst du machen? Du bist, mein guter Wesp, sehr neu in allen Sachen.»
Er liest Popper: «Als Spätgeborene wissen wir: Neuerungen sind nicht unbedingt identisch mit Verbesserungen. Innovationen tragen a priori keinen Qualitätsstempel.»
Er liest irgendeinen zeitgenössischen Essayisten: «Formale Novität – meist mit dem Anspruch auf Revolution, Revolte oder zumindest Provokation – wird zusehends zum Selbstzweck, zu einem leeren, von semantischem und emotionalem Gehalt separierten Kriterium. Doch auch in diesem Lichte betrachtet, ist die ‹Avantgarde› der letzten hundert Jahre über das provokative Potential eines Marcel Duchamp nicht weit hinausgelangt. Stattdessen spielt sie, in ihrem Kern längst hochkonservativ, bürgerlich, spiessig, immer wieder die alte Karte der Subversion aus, obwohl es innerhalb der Kunst nichts mehr gibt, wogegen sich diese richten könnte. Der erstarrte Gestus der Revolte ist das Steissbein des Kunstbetriebs.»
Jon versteht nicht unbedingt alles davon, mag aber nicht auf seinem Steissbein sitzenbleiben. Deshalb setzt er sich woandershin, auf einen Sessel ins Publikum einer Diskussionsrunde, neben eine ältere Dame, er geht, wie er selbst sagen würde, mitten sin den Diskurs.
«Ich habe das Gefühl, die Autonomieästhetik, der Geniekult verstellt uns hier die Sicht auf die Sachlage…»
«Jedes Gefühl, meine ich, ist nur ein hilfloses Singen im Sturm. Alter Wein in neuen Schläuchen. Fortschritt als Erneuerung des Alten. Jonglieren mit Echos. Aufpolieren der Vergangenheit.»
«Ja. Bewusst oder unbewusst reproduziert moderne Kunst Avantgarden und hält sich für neu.»
«Wenn man mal den Kopf leert und nicht denkt und Dinge zulässt, kann dann nicht etwas Neues entstehen?»
«Wir betreiben schon sehr lang Erneuerung. Immer auf die gleiche Weise. Institutionen für Avantgardemusik wirken wie Seniorenvereine.»
«Na! Trotzdem, sagte Busoni, ist abendländische Musik noch ein Kleinkind!»
«Wir müssen auch die phylogenetischen Zusammenhänge betrachten. Was ist der Zielpunkt kultureller Entwicklung?»
«Das ist reine Geschichtsmetaphysik.»
«Und sich selbst zur Avantgarde zu erklären, ist ohnehin Ausweis künstlerischer Armut.»
«Man muss gewissermassen das Gehirn hungrig werden lassen. Man muss das Gehirn in den vegetativen Modus versetzen, sonst reproduziert es nur.»
«Aber Reproduktion versetzt auch in den vegetativen Modus!»
«Ich komme aus der Tanzimprovisation. Da entsteht das Neue im Prozess.»
«Auch Improvisation muss man trainieren.»
«Das geschieht impulsiv. Es passiert.»
«Es kann sich eine Veränderung vollziehen. Aber Veränderung geschieht durch Wissen und Verstehen. Wir brauchen mehr Druck gegen Unwissenheit.»
«Zum Beispiel in Klimafragen. Man muss endlich an die relevanten Themen ran. Es ist höchste Zeit! Wir leben im Anthropozän.»
«Umweltthemen sind aber seit Jahren präsent.»
«In der Schweiz vielleicht!»
«Das Problem nimmt ein planetarisches Ausmass an. Die Ressourcen sind erschöpft. Wir sind in der biosphärischen Dystopie angekommen.»
«Wir verstehen noch gar nicht das Problem. Jeder hat sein privates Feindbild.»
«In dieser populistisch durchseuchten Welt gibt es doch gar kein Wir mehr.»
«Ich kann das ständige ‹Wir› nicht mehr hören, wenn nicht klar ist, wer dieses Wir ist.»
«Eben. Es gibt dieses Wir nicht. Die Menschen verstummen.»
«Das Verstummen ist ein Reflex. Wie kann man Sprache wiederfinden?»
«Niemand verstummt, alle bekennen sich; wollen ihre Blase bedienen; keiner will den Dialog.»
«Ja, es stellt sich eine gewisse … sagen wir: diskursive Beliebigkeit ein.»
Tatsächlich: Jetzt hört Jon nur noch unzusammenhängende Fetzen.
«Der Fokus muss auf das Subjekt gerichtet werden.»
«Da ist die Politik gefragt.»
«Schlussendlich stellt sich die Frage nach dem Sinn.»
«Gott sei Dank geht alles schnell vorüber», hebt plötzlich die Sängerin an, deren Auftritt die Veranstaltung beschliesst. «Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?»
Am Ende versteht Jon womöglich weniger als zuvor. Er versteht die einzelnen Aussagen, ja sogar die unterschiedlichen Positionen, aber wie ist deren Verhältnis, was ist deren Wert, wo die angemessene Gewichtung?
Gerade will er aufstehen und den Saal verlassen, da berührt ihn die ältere Dame, die neben ihm sitzt, leicht am Oberarm. «Alle sind ach so fortschrittlich!», flüstert sie zu Jon, seitlich zu ihm hingeneigt, wie im Vertrauen, obwohl sie sich noch nie begegnet sind und selbst an diesem Abend keinen einzigen Blick gewechselt haben. «Alle verlangen nach der Aktualität. Fordern Relevanz. Wollen mit den Klassikern, mit dem sogenannten Zeitlosen nichts zu schaffen haben. Ist ja alles veraltet.»
Die Frau hört auf zu reden und sieht ihn bedeutungsschwer an, aber als Jon schon fast glaubt, sie habe lediglich diese triviale, nichtssagende Modernitätsklage loswerden wollen, fährt sie fort: «Und dann… Dann kommt plötzlich diese Musik. Diese alten Lieder. Dieser uralte Text. Und – ist Ihnen das aufgefallen? – alle sind auf einmal ganz still und andächtig und hören zu. Hören nicht nur zu, sondern sind davon durchdrungen. Kriegen den frisson. Können nicht aufhören zu klatschen.» Sie schweigt wieder. «Wissen Sie was? Vielleicht muss man nicht immer nur nach vorn, immer neumachen, neuwerden, erneuern. Vielleicht muss man sich auch einmal um der Klassiker willen eraltern?»
Auf dem Weg nach Hause, beim Baden, im Bett denkt Jon noch lange nach, denkt nur an die Worte der Frau. Er kann nicht schlafen. Er beschliesst: Er will jetzt einiges ändern. Er will Kunstgeschichte studieren, alte Kunst, ja Archäologie. Was
weiss er schon vom Altertum? Die paar historischen Seminarstunden an der Kunsthochschule – lächerlich! Er will antike Literatur lesen. Er will sich regelmässig mit der älteren Dame zum Austausch treffen, ganz altmodisch, ganz authentisch, ganz präsent, ohne Smartphone, Zoom, Social Media. Er überlegt sogar kurz, sich wieder Jonas nennen zu lassen, was wir wiederum respektieren würden, wenn er über dieser Grübelei nicht doch noch eingeschlafen wäre.
Am nächsten Morgen setzt er sich an den Schreibtisch und beginnt, nachdem er kurz Lee Anns Instagram-Profil geprüft hat, einen Antrag zu schreiben: «Es ist höchste Zeit! Wir leben im Anthropozän, wir sind in der biosphärischen Dystopie angekommen. Wandel liegt in der Natur. Aber die Ressourcen sind erschöpft. Und in unserer populistisch durchseuchten Welt herrscht diskursive Beliebigkeit. Es kann sich eine Veränderung vollziehen. Aber Veränderung geschieht durch Wissen und Verstehen. Wir können aus den eingefahrenen Routinen unserer Koexistenz ausbrechen, die an sich schon etwas Reaktionäres haben. Der Fokus muss nun auf das Subjekt gerichtet werden. Mit meiner künstlerischen Forschung möchte ich dazu beitragen, die phylogenetischen Zusammenhänge freizulegen, und – jenseits von Autonomieästhetik und Geniekult – Fortschritt als Erneuerung des Alten und zugleich Eralterung des Neuen zu begreifen.»