In der Schwebe

Nach dem Besuch unseres zweiten Salons reflektiert Ulrich Bahrke diesen und stellt sich ausgehend von eigenen Erinnerungen die Frage, was einen Salon eigentlich ausmacht. Hier gewährt er uns Einblick in sein Journal.

Eine Reflexion von Ulrich Bahrke
Zum Salon «Wandel und Erneuerung: Aufbrüche»

Der frühherbstliche Sonntag-Nachmittag zeigte sich noch einmal ungewöhnlich sommerlich, als ich die Strasse nach der mir dezent mitgeteilten Hausnummer absuchte. Judit hatte mich eingeladen zum Salon des von ihr kuratierten Liedfest Zürich in eine Zürichberg-Villa. Ihre Einladung war mir Grund genug, mich in diese mir sonst nicht «zugängliche» Gegend aufzumachen; ehrlich gesagt, hatte ich die Webseite der Ankündigung zwar gelesen, aber nur flüchtig, ich war nicht wirklich vorbereitet. Ein Salon in Zürich im Jahre 2025, braucht es das? Wer? Wozu? Judit jedenfalls als professionelle Pianistin und Liedbegleiterin hat andere Qualitäten und Wirkmöglichkeiten als die bekannten Salonnièren wie etwa Rahel Varnhagen, Johanna Schopenhauer oder Caroline Schlegel, die sich in ihrer Zeit nur dadurch in eine ihnen angemessene Position bringen konnten, eine gebildet-kunstsinnige Runde im Cercle intime um sich zu scharen.

  • Das letzte Mal hatte ich einen Salon im Frankfurter Westend besucht. Dort lud die Frau eines Bankiers gelegentlich in die ineinander übergehenden Räume der stattlichen Wohnung einer stattlichen Stadtvilla – die etwa 150 Personen gingen hier nicht gerade verloren, aber hatten gut Platz. Jemand sang unter Begleitung am Flügel sehr gut für gutes Geld oder jemand referierte eloquent-spannend für gutes Geld, danach gab es sehr gute Häppchen bei sehr gutem Champagner; ich erinnere, wie mir die Hausherrin im Vorbeihuschen ins Ohr flötete: «Herr Bahrke, ich würde mich bei den Blinis etwas zurückhalten, es kommen noch Austern...» Die Einladenden und die meisten der Eingeladenen waren interessante Menschen, polyglott weltläufig, kenntnisreich, weitgereist – durchaus auch auf abenteuerliche oder das Caritative einschliessende Weise – und kunstsinnig. Der Hausherr führte mich «entre nous» in das den Salon selbstverständlich nicht einschliessende Schlafzimmer, zeigte mir ein dort hängendes, gerade erworbenes Bild eines anwesenden Malers und interessierte sich ernsthaft für meine Resonanz auf dieses abstrakte Werk; dann vertraute er mir an, dass er für eine Walküre mit Bryn Terfel kürzlich in die Met «gegangen» sei. Ein Wagnerianer fährt oder fliegt ja nicht, er «geht» nach Bayreuth; übrigens rief er für mich dort an, als ich selbst noch auf solche Anrufe angewiesen war, um den Grünen Hügel begehen zu dürfen – inzwischen konnte ich mich dafür gelegentlich auf nämliche Art bei anderen bedanken. 

    War das ein Salon, das Etikett stimmig? Was ist ein Salon? Diese geselligen Zusammenkünfte in der Freiherr-vom-Stein-Strasse boten zwar einen Ort des ungezwungenen Austauschs zu Kunst, Geistesleben und Politik, aber eigentlich vor allem des Netzwerkens, des Auslotens, wer gerade für welches Kunstprojekt, welche Lesung, welches Konzert, welche Galerie oder Philosophen-Konferenz spendenfreudig gestimmt sein mochte – oder einen Anwalt brauchte. Böse gesagt: ein Ort der Kungelei; und da sich auch manch politisch Amtierende samt Oberbürgermeisterin blicken liessen, war die Beziehungspflege in diesem «Salon» umfassend effizient – und, was mir gefiel, stilvoll. Die Anwesenden waren apart gekleidet, kannten nicht nur moderne Kunst und Künstler, sondern hatten einhergehend mit eloquenter Redegewandtheit einfach Manieren. Ja, das hatte Klasse. 

    Aber «Salon»? Die Bezeichnung war gekapert. Ein Salon hatte seinen ursprünglichen Sinn und Wert in Zeiten feudaler Restauration, war eine geistig-künstlerische Insel im Meer von Zensur und politischer Ohnmacht. Hier, in dieser Frankfurter Westend-Villa, war dieser Ort in Zeiten von Rechtsstaatlichkeit und Freiheit ein Nice to have: Ein Ort von Stil, Kunst und Geist on top und zudem einer von Einfluss und Geld: «Aah, Sie sind Psychoanalytiker. Spannend! – Was verdient man denn da in der Stunde?» «Derzeit 80 Euro.» «Was, kann man denn davon leben?» Nun, es gab auch die Geldadel-Herablassung, geschenkt. Vor allem jedoch nahm das Kunst Interesse hier seinen Ausgang nicht an einem Leiden oder Mitleiden an gesellschaftlicher Not. Sicher, solche Aspekte wurden mit bedacht und besprochen – und gelegentlich auch anderen geholfen, solange und soviel es einem selbst nicht wehtat; aber im Grunde ging es hier um die Selbst-Kultivierung und die multilaterale Beziehungspflege einer Elite als Selbstzweck. 

    Ich habe die Hausnummer entdeckt, ein diskretes Hinweisschild weist mir einen Weg rechts bergab am Haus entlang, das sich nach unten hin über grosse Glasflächen zu einer von Graswurzeln angegriffenen Terrasse öffnet, auf der sich bereits einige Gäste bei Kaffee und Wasser begrüssen – ein insbesondere bei diesem Sommerwetter bezaubernder Ort mit Blick an Blättern vorbei und über Bäume hinweg hinunter auf den See und hinüber zur Uetlibergkette. 

    Wie war das bei «uns»? Während mein Blick von dieser besonnten Zürichberg-Villa über dieses gesegnete Land schweift, sehe ich vor meinem inneren Auge den riesigen tristen Plattenbau, den ich im Juli 1982 im noch Leningrad genannte St. Petersburg betrat: Nach und nach findet man sich in dieser Wohnzelle ein, in deren einem Teil sich Rennräder stapeln. Sie sind in der ausgedehnten Stadt die einzigmögliche Form von Unabhängigkeit vom überlasteten Transportwesen, müssen aber wegen Diebstahlsgefahr jeweils mit in die Wohnungen genommen werden. Jeder bringt etwas mit: Tee, Marmelade, Brot, Käse... Es heisst dem hier Wohnenden gegenüber nicht: «Hast du Zucker?» Sondern: «Haben wir Zucker?» Und wenn «wir» keinen haben, geht jemand ihn besorgen. Dann wird gegessen und bei Tschai mit oder ohne Zucker diskutiert – wie oft habe ich das in mich aufsaugend erlebt: Dieses typisch russische Sitzen am Küchentisch bei stunden- bzw. nächtelangem Diskutieren. «Hier» geht es um Alles. «Draussen» ist man Physiker, Mathematiker, Philologin – Mascha ist in sowohl verehrender als auch kritischer Weise mit einer Puschkin-Herausgabe befasst –, aber vielleicht inzwischen auch Heizer oder Pförtner. Hier geht es um Sprachlogik, Hesychasmus, Nikolaus von Kues, Goethes Faust, Kants Prolegomena, Buddhismus, das Jüdische im Christentum, Bach, Arithmologie, Hermeneutik: Wie kommen wir durch die Sprache hindurch zum Logos, wie geht der Weg, zu einem Aaron zu werden, durch den hindurch «der Gott» spricht; anders gesagt: Wie können wir nach dem Ende des Kommunismus zu einer triangulären, nicht nur die kartesianisch verursachten Spaltungen überwindenden Beziehungskultur finden? Serjoscha: «Der Kommunismus ist – wie Marx gesagt hat – ein Gespenst: Ein Gespenst nimmt immer wieder neue Gestalten an und geistert durch die Geschichte.» – Nein, man habe kein kastalisches Selbstverständnis einer geistigen Insel inmitten von Unkultur: «Wir können uns doch nicht von unserem Land trennen und müssen wegen dem, was in Polen geschieht, etwas in uns selbst hassen.» Doch um den russischen Imperialismus – diese Wortverknüpfung höre ich hier 1982 in meinem Leben das erste Mal – geht es nur am Rande. Heute bin ich eingeladen zu Heidegger zu sprechen, die Gruppe hört aufmerksam und lange zu: Seinsvergessenheit, Sein und Seiendes, Da-sein, In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein. Das «Man». Das Gerede. Die Sprache als Haus des Seins. Die Entschlossenheit. Eigentlichkeit. Der Mensch als Ek-sistenz, als «Hirt des Seins». An solche Gedanken der «Überwindung der abendländischen Metaphysik» können sie hier anknüpfen und Iljuscha – er hatte in der Woche zuvor zum Shabbat eingeladen, später emigrierte er nach Israel; wie wird es ihm wohl heute gehen, wie wird er denken? – bedankte sich bei mir für dieses «philosophische Vergnügen». War das ein Salon? Mascha war zentral, klug, vermittelnd, auch als Übersetzerin im Mittelpunkt. Aber es wurde nicht musiziert, nicht gesungen – das Raumgebende einer zweckfreien Geselligkeit fehlte hier. Ist das ein Salon: Die Verbindung von existentiellem Ernst und gesellschaftlicher Not mit dem durch die Musen gewährten Spiel-Raum? 

    Nein, so «radikal» wie in dieser Gruppe der dissidentischen russischen Intelligenzia ging es in «meinen» Kreisen in den 80ern in Halle nicht zu: weder, was die Radikalität geistiger Durchdringung, noch die der gegenseitigen Konfrontation oder der Bereitschaft, dem die eigene Existenz unterzuordnen, angeht. «Wir» waren in der Tendenz pragmatischer dem Herrschaftssystem gegenüber eingestellt und bereit, diesem zumindest einen solchen Grad von Anpassungsleistung zu erbringen, dass wir an einer Universität hatten studieren «dürfen» und als Ärzte, Naturwissenschaftler, Architekten einen halbwegs ideologiefreien akademischen Beruf ausüben konnten. 

    Vermutlich steht die ostdeutsche Variante wegen der dem Musischen mehr Raum gebenden Ausgestaltung stärker in der Tradition der Salon-Kultur, als die damals in Leningrad erlebte mit intellektuell-philosophischem Schwerpunkt, auch wenn es dort ebenfalls die Freude am Sprachwitz, an Ironie und insofern am Romantischen gab: «Die Welt muss romantisiert werden» – ist das nicht der eigentliche Leitspruch auch des Salons? Der Ermöglichung von Phantasie und Spielräumen des Geistes, damit, ja, damit «Wandel und Erneuerung» – so die Salon-Überschrift in Zürich – beginnen oder geschehen können in Zeiten geistiger Unterdrückung, aber vielleicht auch in Zeiten geistiger Ein-öde durch die digitale «Überschwemmung»? 

    Die bolschewistische Herrschaft und die ihrer einheimischen Kollaborateure, die sich ja nur aufgrund des nationalsozialistischen «Russlandfeldzuges» und dem diesem folgenden Stalin’schen Gegenfeldzug bis nach Mitteleuropa hatte ausdehnen können (!), war eine neue Variante einer das freie Bürgertum unterdrückenden Feudalgesellschaft: Der «Adel» mit seinen Privilegien bestand mehr als ein Jahrhundert später in den Parteibonzen, und die «anderen» waren die neuen Leibeigenen, «wir» «gehörten» «dem Staat»: Wer studieren «durfte», was er «dafür» «dem Volk» «zurückzugeben» hatte, wer wohin reisen durfte, war willkürlich; ein Auswandern «nach Amerika», «the Land of the Free», also «in den Westen», war allenfalls über demütigende Prozeduren oder den Sprung über den «Todesstreifen» möglich. Einen unzensierten geistigen Austausch gab es nur in den eigenen vier Wänden. Die früheste Lektion des Lebens in zwei Parallelwelten erteilte mir im Vorschulalter mein Vater, nachdem er vorgeladen worden war, mich nicht dem schädlichen Westfernsehen auszusetzen. Ich hatte vor der Haustür die dort aufgeschnappte Melodie der »Sarotti-Mohr«-Werbung vor mich hingeträllert. Nun gab er mir den eigentlichen «Staatsbürgerkundeunterricht»: Dass es ein Drinnen gibt und ein Draußen. Und dass dort jeweils verschiedene Gesetze gelten. 

    In Schule und Gesellschaft wurde nahezu alles zu Vermittelnde mit ideologischer Sosse übergossen. Deren üble Fettschicht klebte hartnäckig an allem. Jedoch erweiterte sich meine geistige Welt als Oberschüler in der «Jungen Gemeinde» in Magdeburg und in den Studentengemeinden in Halle, auch in Leipzig und Jena. Dort wurde freier und breiter referiert und diskutiert – Picasso, Parmenides, Popper, Fühmann, Dostojewski, Meister Eckhardt, Bach, Dürer – ein wöchentliches, abendliches Studium generale im geselligen Kreis, gewissermassen «studienbegleitend». Vorgetragen wurde von bemerkenswerten Kennern, aber auch von Dilettanten: Wenn jemand drei Bücher über Trakl gelesen hatte, konnte er sich in der geistigen Trakl-Einöde Ostdeutschlands bereits als Trakl-Kenner und berechtigt fühlen, über ihn zu sprechen. Dass Spitzel unter uns waren, war eingepreist und hielt uns vom geistigen Austausch nicht ab; «staatsfeindliche Aktionen» wie eine geplante Flucht oder eine Plakataktion – ernsthaft die Umweltzerstörung anprangernd oder witzig, die Mächtigen verulkend an der Friedhofsmauer zu plakatieren: «Heraus zum 1. Mai» – wurden natürlich verschwiegen. An der Universität spendete die «Alma Mater» zudem so manche gute Milch, bei den Kunst- und Literaturwissenschaftlern, bei den Theologen. Dort hörte ich – nach einer vertrauensbildenden Konsultation beim Dozenten – eine ebenfalls abends stattfindende Vorlesung zu den «Denkvoraussetzungen Rudolf Bultmanns»: Das gesamte Semester widmete Michael Beintker dann dem Denken Martin Heideggers, den ich danach (dessen Werke hatten mir FreundInnen aus dem Westen hereingeschmuggelt) verständiger lesen konnte – so schliesst sich der Kreis. 

    Diese Abende in den Studentengemeinden wurden für manchen eine Art Muster, diese Kultur nach Studienabschluss ins heimische Wohnzimmer zu verlegen; insbesondere als eigene Kinder nebenan schliefen, war diese Verlegung ohnehin angezeigt. Halle hat stattliche Häuser aus Gründerzeit und Jugendstil, in deren Wohnzimmern entweder zu besonderen Anlässen – weil ein westdeutscher Geisteswissenschaftler in der Stadt war, eine Musikerin etwas vortrug – eingeladen wurde: Ich erinnere inspirierende und gesellige Abende in der Nähe von Reichardts Garten, in einer Wohnung unter der Giebichensteinbrücke mit Blick auf die Saale, in solchen der Händelstrasse und im Paulusviertel. Oder man traf sich in regelmässiger Weise, zur «Hausmusik» oder zum «Jour fixe»: Norbert und Gundi hatten einen solchen. Zu uns in die Wegscheiderstrasse luden Danka und ich monatlich einen an Kunst, Literatur, Philosophie interessierten Freundeskreis, wobei jeweils einer/eine vortrug, was ihn/sie gerade beschäftigte – heute würde man das wohl Impulsreferat nennen. Ob der später als Stasi-Spitzel enttarnte Architekt über Ausführungen zu Paula Modersohn-Becker oder Hieronymus Bosch bei seiner Behörde berichtete, geht aus den Akten nicht hervor, vielleicht war er ja bei uns auch nicht «im Einsatz». War das ein «Salon»? Neben der Ermöglichung gegenseitigen, unzensierten kunst- und geistaffinen Austauschs war das Kriterium einer regelmässigen Geselligkeit gegeben, freundschaftliches und solidarisches Beziehungserleben eingeschlossen. 

    Impulsreferate – dazu soll es nun ebenfalls hier in dieser Zürichberg-Villa kommen. Zunächst jedoch lausche auch ich als einer der etwa fünfundvierzig inzwischen Eingetroffenen – höflich von der Terrasse an eine lange Tafel im Innenbereich gebeten – einer aufschlussreichen Einführung des Hausherrn in die Baugeschichte und das eindrucksvolle Hineinwirken des früheren Villa-Besitzers in die Kunst der Moderne. Patrick beschreibt den vorgesehenen Ablauf: Musik rahmt kurze Referate und Diskussionsrunden. Was diesen Salon kennzeichne, sei der Verzicht auf «alles Digitale». Der Rückzug in einen Salon bestünde in unserer Zeit im «Abschalten digitaler Überflutung und Aufzeichnung» – ein mir, der ich die Berges- und Wüstenstille zum persönlichen Himmelreich erklärt habe, sympathischer Ansatz. Mir fällt währenddessen die Gepflogenheit eines Professors ein, der seine urlaubsbedingte Abwesenheitsmail mit den Worten ergänzte: «Sämtliche in meinem Urlaub eintreffenden Mails werden automatisch gelöscht. Sollte Ihr Anliegen nach meiner Rückkehr noch bestehen, schreiben Sie mir bitte eine weitere Mail.» Analog also, Stifte und Papier zum Mitschreiben, ein Maler «zeichnet auf». 

    Während der Lied-Intervention I mit von einer Sopranistin unter einfühlsamer Klavierbegleitung vorgetragenen spanischen und russischen Liedern erfreut es mich, dass Russisch erklingt, Tschaikowski und eine Rachmaninow-Vertonung eines Puschkin-Gedichtes. Vorgestern, zur Eröffnung der Opernhaus-Saison hatte Elīna Garanča in «allen» europäischen Lied-Sprachen gesungen, auch in Lettisch, ihrer eigenen – nicht jedoch in der russischen. Ich bin nicht einverstanden, und es macht mich traurig, wenn die reiche, schöne russische Kultur boykottiert wird, als wäre sie identisch mit dieser so viel Leid über fremdes und das eigene Land bringenden Tyrannei. 

    Wir haben zugehört, waren mehr oder weniger träumerisch nach aussen und innen gewandt, nun wechseln wir in einen Zustand, Gedanken aufzunehmen. Sandeep Bhagwati spricht zu «Wandel und Erneuerung aus der Perspektive eines Komponisten»: Der Blick gehe gleich Janus zurück und nach vorn – wo ist das «Paradies»? Sind die Klangsprachen ausgeschöpft? Kann sich, soll sich Hören «erneuern»? Die Hoffnungs-Versprechungen des 20. Jahrhunderts jedenfalls sind zerbrochen. Damit auch die einer mit diesen verbundenen Musik des Aufbruchs? Wohin? Auf neue Schuttberge des Benjamin’schen «Angelus novus»? «Nostalgie und KI = aus ist’s mit der Phantasie». Was macht all das mit mir als Komponisten? Zumal wenn ja – anders als im bildnerischen oder literarischen Schaffen – von der Komposition erstmal immer nur die Partitur vorhanden, das eigentlich kreative Momentum jedoch vertagt ist auf den meist unbestimmten, aber eigentlichen Moment des Erklingens. Es folgen Gedanken zur «transtraditionellen Musik» und anderen, mir unvertrauten Musikformen, beispielsweise einer, die aus dem Dialog der Mongolen mit ihren Bergen entsteht. Solche Erweiterungen der Klangwelt finde ich fesselnd, und ausgehend davon, dass bei unser aller In-die-Welt-Kommen das Hören dem Sehen vorausgeht, ist mir der Gedanke nahe, dass die Klangwelt vielleicht die äusserste Hülle unserer Existenz ist. 

    Das Referat endet mit Musik, dem schon vor längerer Zeit geschaffenen Lied des Komponisten «Keine Angst». Bereits gestern beim Lied-Happening im ZKO-Haus von Michaela und Judit vorgetragen, hatte ich es dort noch stärker erlebt, geradezu herausragend – ein Ereignis! 

    Der Impulsvortrag II «Aufbrüche innerhalb des Planetaren» hat einen fokussierteren Ansatz: Boris Previšić spricht über die Quartär-Forschung, die 20 Eiszeiten der letzten 2,6 Millionen Jahre und den Ackerbau seit 11.600 Jahren, der Einfluss darauf hatte, das Klima der Erde zu stabilisieren. Der Mensch habe seitdem, im Holozän – also ist es ein Anthropozän? – gewissermassen «Geoengineering» betrieben. Der Ackerbau hat nicht nur die Sesshaftigkeit und Hochkulturen ermöglicht, sondern auch den Emissionsausstoss erhöht und damit eine neue Eiszeit verhindert. Was diese Hochkulturen beträfe, könne man mittlerweile deren jeweiligen Untergang – Ägypten sei wegen des angeschwemmten Landes im Nil-Delta eine «glückliche Ausnahme» – von den Erosionsraten der Böden ableiten: Gab die Erde nicht mehr genug «her», war «der Boden» nicht mehr ausreichend «fruchtbar», kamen mit der Hungersnot gesellschaftliche Zerstörung, «Völkerwanderungen» usw. 

    Wir stossen nun also auf ganz andere Weise auf Grenzen und die diesen naheliegende Hoffnungslosigkeit. Wobei es ja nicht nur um die Ressourcen des Bodens geht – den Erdüberlastungstag hatten wir in diesem Jahr am 24. Juli erreicht – sondern ebenso um unseren auch ganz persönlichen Umgang mit den biosphärischen Vorgaben, der CO2-Bilanz. 

    Wir haben zugehört, jetzt sind – unterbrochen von der Liedintervention II mit Liedern von Berlioz – zwei Diskussionsrunden mit je der Hälfte der Anwesenden und einem der Vortragenden vorgesehen. 

    Die Referate waren prägnant und anregend. Wir waren angehalten worden, mitzuschreiben, es gäbe keine Moderation, «das übernehmen die Fragen auf euren Zetteln». Das funktioniert natürlich nicht. Während jemand versucht, mitzuteilen, was der Vortrag bei ihm angeregt hat, geht der nächste gleich auf eine Metaebene; die übernächste meint, man solle doch am besten alle Gedanken beiseite tun und den Körper sprechen lassen, dem der diese Zusammenkunft «aufzeichnende» Maler klug widerspricht: auch er könne nicht ohne sein in ihm wirkendes Unbewusstes malen. Worauf dem Referenten eine Frage gestellt wird und die Zeit um ist. Nein, das ist ungerecht zugespitzt, es kam zeitweise zu Austausch, Aufeinander-Eingehen, erhellende Gedanken fanden Platz, in meiner Gruppe war niemand unangenehm raumgreifend. In der anderen Gruppe soll es jedoch sofort zu einer Wechselrede auf Diskursebene gekommen sein, was die anderen über längere Zeit zu Zuhörern degradierte. Zu einem gemeinsamen Weiterdenken kam es aber auch bei uns nicht. Wie sollte es anders sein: Die hier angesetzte Zeit für die Diskussion ist begrenzt und noch begrenzter durch die Antizipation, dass man sich in diesem Kreis nicht wiedersehen wird. Vor allem aber: Jemand hätte Struktur geben müssen – also bitte: Das ist ja nun wirklich genug erforscht und bekannt, wie man Kleingruppen unter Berücksichtigung der Gruppendynamik und mit Hilfe welcher Kommunikationsstrategien zu einem kreativen Prozess anzuregen vermag. Diese Chance wurde vergeben. 

    Was kann und soll ein Salon können? Die grossen Vorbilder waren gesellschaftliche Treffen im privaten Raum «mit gegenseitigen Vorträgen, Vorlesen und Besprechen eigener und fremder Texte, Lesen mit verteilten Rollen, gemeinsamer Textproduktion wie Reimen und improvisierendem Erzählen, gemeinsamem Musizieren, Konzerten von professionellen Musikern, Anfertigungen von Zeichnungen, Scherenschnitten, Porträtsitzungen oder auch Vorbereitung und Veranstaltung von öffentlichen Ereignissen wie Maskenzügen und Laientheateraufführungen», so zählt es eine Dissertation auf; «einladend waren meist wohlhabende gebildete Frauen oft adliger Herkunft.» 

    Salons hatten kulturelle Anziehungskraft und Ausstrahlung, hatten etwas «Zweckloses» und nahmen doch gesellschaftlich Einfluss, haben die Französische Revolution wie die Demokratisierung Deutschlands vorbereitet; und «unsere» Salons die Revolutionen in Osteuropa. Gedanken- und Fühlräume zu öffnen, die von «aussen» eingeengt zu werden drohen, war und ist ihr eigentlicher Sinn. In einem Salon «darf» nichts passieren «müssen» – der Ergebnisdruck einer Arbeitsgruppe wäre hinderlich für das Öffnende des Spiels im Sinne Schillers, für die von ihm so bezeichnete «ästhetische Erziehung des Menschen». Er sollte also dazu verhelfen, etwas in der Schwebe zu halten, das Schwere leicht zu nehmen, ohne es zu beschönigen oder gar auszublenden; nein, im Gegenteil: Das gesellschaftlich und vielleicht auch persönlich Beschwerende ist der eigentliche Ausgangspunkt für die Not-Wendigkeit des Salons. 

    Das verweist erneut auf Schiller, den Dichter der Freiheit, der verzweifelte an der barbarischen Entartung der freiheitsstiftenden Revolution. Die nächste Generation, die zu verzweifeln drohte an der bleiernen Stagnation der Restauration und der sie verfolgenden Zensur, wurde zum Zeitalter der Salons schlechthin. Die «Schubertiade» ging teilweise in die Natur, auch weil in Wien zu viele Spitzel sassen. Was diese Romantiker suchten, war «la magia delle cose» – die Magie der Dinge. Und sie trieben es auf die Spitze «...indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es» (Novalis). Gewiss, bei der Ausrichtung auf die Sehnsucht – dieses schöne deutsche Wort –, auf «das Unbedingte, das nicht zu fassen ist», konnte die Nüchternheit der Aufklärung schon mal «vergessen» gehen. Sicher, Aufklärung allein macht den Raum eng. Aber es braucht sie. Die klare Sicht auf die Dinge mit all ihrer Bosheit und ihrem Schmerz – das ist der auszuhaltende Ausgangspunkt. Novalis hatte beides, war Bergbauingenieur und keineswegs auf «Weltflucht» aus. 

    Zu solchem muss die «Salon-Kultur» hinhalten, wo dieses Aushalten nicht gewollt wird oder nicht gelingt und der Salon zum Ort der Erholung vom Alltag bei wohlgefälliger Musik, zur Ablenkung vom gesellschaftlichen Leid pervertiert. Wie beispielsweise gegenwärtig in der Wiederkehr des Tellkamp’schen Turms im «Dresden-Cluster» zu beobachten ist: Kulturvolle Zusammenkünfte der Enttäuschten, die es nicht schaffen, die Demokratie durch ihren Groll hindurch als die beste aller möglichen Regierungsformen anzuerkennen, die in Anbetracht ihrer vermeintlich wichtigen Grösse nicht bereit sind, ihren ach so begrenzten Einfluss auf das Gesellschaftsgeschehen zu akzeptieren – und diesen gleichwohl für bedeutend zu halten, bedeutend im Gesamtgefüge vieler kleiner Einflüsse einer demokratisch strukturierten Gesellschaft. 

    Ich erinnere ein Treffen während der Monate unserer Revolutionszeit, als ja gleichzeitig der Alltag weiterging und auch die Nischenkultur fortbestand – und eine der Bohley-Schwestern bei einem unserer Abende aufsprang: «Sind wir denn hier noch zu retten? Raus! Nicht nur am Montag! Ab unter die Leute!» Ja, ein Teil in uns wollte es kuschelig behalten, anstatt nun die Mühen der demokratischen Ebenen in den sich gründenden Parteien zu «bestreiten». 

    In heutigen Zeiten hier in Zürich einen Salon «einzurichten», finde ich eine geniale Idee. Judit und Patrick sind für einen solchen kunst- und geistreichen Ort passende Protagonisten: In tiefer Weise ernsthaft ebenso wie musisch-sinnlich-spielerisch offen. Ich stelle sie mir als grosszügige Einladende in ihre Villa auf dem Zürichberg vor. Das würde atmosphärisch viel verändern, zu spüren, bei ihnen zu Gast zu sein und sich nicht ein bisschen verstohlen umschauen zu müssen, was wohl in diesen zur Verfügung gestellten Räumen betrachtet, betreten, eingenommen zu werden sich geziemt. Die beiden könnten im Eigenen mit ihrer liebenswürdigen Zuwendung und in natürlicher Autorität mehr «heraustreten». Ihrer beider inhaltliches «Zusammenspiel» aus Musik, Kunst und philosophischem Fragen mit Gesellschaftsbezug gibt ihrem Salon Substanz. Die Auswahl der Lieder öffnete – sich um ein Thema rankend – kulturübergreifend Räume. Es erklangen bekannte und unbekanntere Lieder, was die Mühe des Zu-Hörens einschloss; nichts von niederschwelliger Beliebigkeit. Die Auswahl der Impulsreferate traf Relevantes. Und nicht zu vergessen, der Höhepunkt des Liedfestes vom Vorabend, das Konzert von Anna El-Khashem und Keval Shah im Konzertsaal des Zürcher Kammerorchesters, das höchste musikalische Künstlerschaft erleben und geniessen liess und ebenso im Markus Sittikus-Saal hätte stattfinden können, wirkte in uns nach. 

    Da relativiert sich der genannte Schwachpunkt, die Nichtberücksichtigung kommunikativer Diskussionsstandards – oder wird um so ärgerlicher. Was diesem Salon jedoch am meisten fehlt, ist die zeitliche und personelle Regelmässigkeit. Ja, gern wäre ich Mitglied ihres Salons mit solch klugen, sich wertschätzenden Menschen, sich regelmässig im Monat oder alle zwei Monate in halboffener Weise treffend; d.h. jeder kann ein neues Mitglied mitbringen, so dass Kontinuität ebenso wie Offenheit besteht. Salons waren nie geschlossene Geheimbünde, sie hatten Aussen- und Innengerichtetheit – auch hierin dem Prinzip der Schwebe gehorchend. 

    Das Digitale «draussen» zu lassen, ist ein passender Ansatz in einer Zeit der Aufgeregtheiten, Beschleunigungen und des medialen Gierens nach Aufmerksamkeit. Doch darum geht es nicht. Das Digitale ist nicht der Feind. Der Feind ist die Angst. Die Angst vor Vielem, vor Ohnmacht vor allem. Auch deshalb, weil von solcher Angst, die in der Stille auftauchen kann, «das Digitale» auf «leichtfertige Weise» ablenkt, sollte es für diese vier Stunden verbannt sein. 

    Es geht darum klar, also angstfrei zu sehen, «was der Fall ist», und das gelingt leichter gemeinsam. «Keine Angst» von Sandeep Bhagwati hat wohl auch deshalb bei mir so «eingeschlagen». Keine Angst – das hat 1989 ermöglicht, das braucht es jetzt in den USA, in China, in Israel, in Russland, im Iran... wo nicht? Um Entwicklungen hin zu einem Punkt von Transformation zu ermöglichen, von sich selbst, der Gruppe vernetzt mit anderen Gruppen, was dann eventuell für einen glückenden Moment die Gesellschaft mitreisst, wie es 1989 im ganzen «Ostblock» die Massen ergriff und schwubs war sie da, die politische Freiheit – aber damit nicht die «Probleme» «verschwunden»; sie jedoch in einer Gesellschaft tabufrei verhandeln zu können, ist «die halbe Miete». 

    Tatsächlich nur die halbe, was die Impulsreferate in Klarheit ansprachen. Die Versuchung «aufzugeben» bleibt. Den Bedrohungen gegenüber frei zu fühlen und zu denken, braucht «Unerschrockenheit» – in Annäherung natürlich. Zu einer solchen kann der Salon durch sein freundschaftliches Beziehungsgeflecht beitragen. Das aber kann nur entstehen durch Wiederholungen der Treffen. Sich gemeinsam dem eigenen und mit-empfundenen gesellschaftlichen Leid ohne Verbissenheit zu stellen, gehalten von der Kunst und ihrem Vermögen, dem Schmerz eine Form zu geben, und getragen von musischer Geselligkeit in innerer Anbindung an die Denk- und Fühlräume öffnenden Salon-Traditionen, die den zielfrei dahinschwebenden Umwegen des Geistes schon mancherlei Wege wiesen – dafür könnte ein Salon der passende Ort hier in Zürich sein. Dazu fehlt den beiden nur noch die eigene Villa.