Leiermann im Zwielicht

Vortrag

Besteht ein Widerspruch zwischen der Intimität des Liedes als Kunstform und dem öffentlichen Rahmen, in dem es sich zeigt? Wird die traditionelle Konzertform dem eigentlichen Wesen des Lieds gerecht? Gibt es überhaupt so etwas wie einen Ort für das Lied? Es ist sehr intim, ganz in sich zurückgezogen, ganz für sich, ganz bei sich. Zugleich aber birgt es in sich die Möglichkeit, komplexeste Seelenlandschaften vor uns auszubreiten vor einem weitausgespannten Welt-Horizont. Im Spannungsfeld zwischen Intimität und Öffentlichkeit, Rückzug und Präsentation zeichnet der Komponist Detlev Müller-Siemens das Lied als Ort authentischer, menschlicher Begegnungen und zugleich als Möglichkeitsraum, in dem die imaginäre innere Stimme und das Lied sich selbst begegnen.

Detlev Müller-Siemens
Im Rahmen des Lied-Happenings
«Ich wünscht’ ich wär’ ein Vöglein»

Als ich die Einladung bekam, etwas über die Kunstform des Liedes zu sagen, zögerte ich zunächst. Ich war ratlos. Denn eines war mir klar: Es sollte nicht noch ein weiteres Referat über die Geschichte des Kunstliedes von den provenzalischen Trobadors bis zum 21. Jahrhundert werden. Aber ich bemerkte ein diffuses Unbehagen bei mir im Zusammenhang mit der Konzertform, in der das Lied präsentiert wird, also der Konstellation Sänger:in nebst Begleiter:in auf dem Podium. Und warum spürte ich nur bei einem Liederabend einen Widerspruch zwischen der Intimität des Liedes als Kunstform und dem öffentlichen Rahmen, in dem es sich zeigt, und nicht im kammermusikalischen oder solistischen Kontext? Was wäre denn ein adäquater Ort für das Lied? Gibt es überhaupt so etwas wie einen Ort für das Lied? Darüber hinaus auch die Fragen: was ist Gesang, warum Gesang, wie beziehen sich Stimme und Sprache, Klang und Wort aufeinander? Darüber wollte ich mir Gedanken machen, und zwar als Komponist.

  • Was also ist Gesang? Laute, Worte, Text, Dichtung, die auf eine besondere Art und Weise artikuliert werden mittels der menschlichen Stimme. Der Gebrauch unserer Stimme dient in der Regel nur dazu, den Inhalt der Worte möglichst klar und verständlich zu kommunizieren. Hinzu kommt eine oft auch Missverständnisse verursachende Bedeutungsebene, nämlich ein differenziert modulierender Tonfall, der sogar Ähnlichkeiten mit Gesang entwickeln kann. Im Gesang kehrt sich dieses Verhältnis nun nicht vollständig um, denn die Worte sind als Bedeutungsträger immer noch sehr präsent. Aber der Gesang arbeitet, teils geradezu subversiv, gegen die sprachliche Ebene an. Die Strahlkraft der Worte verblasst im selben Masse, in dem der Gesang an Glanz und Ausstrahlung gewinnt. Er vermag so durchaus die semantische Ebene der Sprache ganz in den Hintergrund zu drängen. Worte können in der Dichtung zu Musik werden. Gesang kann in höchster gesangstechnischer Vollkommenheit gleichsam ‹charismatisch› zu uns sprechen. Wort und Gesang: Zwei Welten, die sich gegenseitig durchdringen, einander beeinflussen und ihre Qualitäten zum Teil austauschen. Diese Beziehung mit ihrer wechselhaften Dynamik kann die Grundlage für ganze Operndramaturgien bilden. Dies führte zu einer Reihe von Modellen, die häufig in der Oper Verwendung finden: Sprechgesang, unterschiedliche Formen des Rezitativs, Arioso, Arie, Ensemble bis hin zum Chorsatz.

    Wie nun aber gestaltet sich die nähere Beziehung zwischen Wort und Klang? Wie verhalten Sie sich zueinander? Wie kommunizieren sie miteinander?

    Worte können Klänge von innen her mit Bedeutung aufladen, sie können aber Klänge auch gleichsam von außen umhüllen und so mit ihrer Bedeutung zudecken. Hingegen kann eine melismatische Vertonung, also eine solche, die unabhängig vom tatsächlichen Wortrhythmus komponiert wurde und in der weit gespannte melodische Bögen dominieren, die Bedeutungsfunktion der Worte so stark schwächen, dass diese sich IN und IM Klang auflösen. Hier umhüllt die Musik das Wort. Dies kann dazu führen, dass das Wort sich der Musik fast vollständig anverwandelt. Durch die Begegnung mit dem Klang wird die klangliche Qualität der Worte mehr wahrgenommen. Und der Klang wiederum gewinnt an sprechendem Ausdruck in Verbindung mit dem Wort. Wort und Klang durchdringen und verwandeln sich auf diese Weise wechselseitig. Daher gibt es im Lied weder blossen Laut noch klare Bedeutung. Es findet statt in einem Zwischenreich im Zwielicht, das, sofern wir uns ihm mit Wachheit auszusetzen bereit sind, uns vielleicht am Ende klarer sehen lässt. Das Lied «Zwielicht» von Robert Schumann schließt mit den Worten:


    «Manches geht in Nacht verloren

    Hüte dich, sei wach und munter!»


    (Original Eichendorff: 

    «Manches bleibt in Nacht verloren - hüte dich, bleib wach und munter!»)


    Der singende Mensch, der dort auf der Bühne vor einem Kollektiv, dem Publikum, steht, an seiner Seite, als unterstützende Mitstreiter die Begleiter am Klavier – diese ganze Konstellation hat etwas Theatralisches, geradezu Inszeniertes an sich und bekommt durch ihren rituellen und feierlichen Charakter eine fast existentielle Bedeutsamkeit: «der singende Mensch, allein». Aber ist es tatsächlich nur dies: der Mensch in seiner existenziellen Unbehaustheit im Rahmen einer ritualisierten Situation? Oder wird hier nicht auch ein anderes Problemfeld spürbar, nämlich das Verhältnis des singenden Menschen zur Sprache? Und damit verbunden – wie schon eingangs erwähnt – die Frage nach der Beziehung zwischen der Stimme und der Sprache? 

    Der erste Schrei des Neugeborenen ist zunächst noch frei und ohne Bedeutung. Aber durch die vielfältigen Arten der Reaktionen und Antworten seiner Umgebung auf ihn wird er sehr bald eingefangen in einem Netz der symbolischen Ordnung, die wir als Sprache bezeichnen. Daher wird der ‹zweite Schrei› des Neugeborenen zu einem Zeichen, einer Botschaft im Rahmen von Kommunikation. Die Stimme, als Ort ursprünglicher und autonomer, mit sich selbst identischer und sich selbst tragender Lautgebung muss verschwinden, damit Sprache, oder eher Sprechen, stattfinden kann. Diese verschwundene Stimme wird so zu einem Medium, das die Sprache trägt. Daher rührt das Begehren der Stimme, sich davon zu befreien, autonom zu werden und sich freizusetzen, wenn schon nicht im Schrei, dann im Gesang. Und so scheint sich in dieser sehr speziellen Situation des singenden Menschen auf der Bühne vor einem hörenden Kollektiv im Zuschauerraum eben dies abzuspielen: ein Ringen der Stimme um Autonomie gegenüber der Sprache. 

    Da die Sprache uns den Zugang zur ursprünglichen Stimme verstellt, es uns unmöglich macht, an diesen Ort heranzukommen, ist der Schrei der einzige tatsächlich sprachlose Ort, an dem die Stimme ganz zu sich selbst finden und bei sich sein kann. Man denke hier an vier Schlüsselmomente in der Opernliteratur: der Schrei der Lulu in der gleichnamigen Oper von Alban Berg, als Jack the Ripper sie ermordet. Der Schrei der Kundry in Wagners Parsifal. Der Schrei des Jakob Lenz am Beginn der gleichnamigen Kammeroper von Wolfgang Rihm. Und der sogenannte elektronische «Schreiklang», der über Lautsprecher im Publikum am Ende der Oper Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann abgespielt wird. All diesem haftet jeweils aber auch ein gewisses Pathos an, da dieser Schrei in der artifiziellen Situation der Oper natürlich ein inszenierter Schrei ist. Er geschieht nicht als Ereignis, sondern ist hergestellt, ein Artefakt. Und dennoch: es ist auffallend, dass auch ein derart artifiziell ‹maskierter› Schrei auf der Bühne uns sehr nah kommen und unter die Haut gehen kann, uns bis ins Mark trifft. Denn wir erleben das Heraustreten aus einer bisher unbemerkt gebliebenen Abwesenheit: die menschliche Stimme und damit unsere Existenz. Aber es gibt auch das Gegenteil: Robert Schumann komponiert das Verschwinden der Stimme, jedoch nicht das Verschwinden in der Sprache als sprechende Stimme, sondern in den Klang des Klaviers hinein, in dem der Gesang sich als imaginäre, ‹innere› Stimme fortsetzt in langen Nachspielen, ohne Worte, als wäre gerade dieses Instrument der Ort, an dem die Stimme sich selbst begegnen und von der Last der Sprache befreit zu sich selbst zurückkehren kann. 

    Das besondere Format des Kunst-Liedes macht es einem nicht leicht, darüber zu sprechen. Es ist sehr intim, ganz in sich zurückgezogen, ganz für sich, ganz bei sich. Zugleich aber birgt es in sich die Möglichkeit, komplexeste Seelenlandschaften vor uns auszubreiten vor einem weit ausgespannten Welt-Horizont. Im ersten Lied von Franz Schuberts Winterreise heißt es: «Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus», und dieser Auszug findet im Schutze der Nacht statt. Unbemerkt und still geschieht der Aufbruch in die Fremde, der, von Lied zu Lied sich zunehmend in einen Rückzug ins Innere verkehrt. 

    Durch das Festhalten an dem Widerspruch zwischen dem intimen Charakter des Liedes und der traditionellen Konzertform gerät leicht in Vergessenheit, dass der ursprüngliche Ort der Liedpräsentation eigentlich ein Zimmer im privaten Bereich war – so zumindest zu Schuberts Lebzeiten. Dies bekam sogar einen Namen: «Schubertiaden», die man heute vielleicht als ‹Performances› bezeichnen würde. Dieser intime Rahmen wurde jedoch aufgebrochen, und das Subjekt des Liedes präsentiert sich heutzutage ganz ungeschützt in der Situation eines Konzertes auf einem Podium vor Publikum. Jeder einzelne Mensch im Publikum kann sich wiedererkennen in dieser theatralischen Szenerie auf dem Podium und, obwohl er sich inmitten eines Kollektivs befindet in seiner Vereinzelung gleichsam wie ‹ertappt› fühlen. Hier wird also auch ein Widerspruch zwischen Privatheit und Öffentlichkeit deutlich, was vielleicht durchaus ambivalente Gefühle hervorrufen kann. Zugleich bietet dieser performative Rahmen aber auch die Möglichkeit, die Erfahrung einer besonderen Aura machen zu können: die Aura einer authentischen und menschlichen Begegnung, sowohl im kleinen Rahmen auf der Bühne zwischen den Interpret:innen, als auch im großen Rahmen zwischen diesen und den jeweils Einzelnen im Saal.

    Im letzten Lied der Winterreise «Der Leiermann» findet aber noch eine andere Begegnung statt: das Lied begegnet sich selbst als Lied im Lied. Es findet zu sich selbst, aber als entfremdetes: das Klavier verwandelt sich in eine imaginäre Leier, die radikal karge Melodik kreist im Klavier und im Gesang redundant in sich selbst, und wir werden am Ende des Liedes Zeuge einer desolaten Szene, eines einseitigen und ins Offene sich verlierenden Versuchs der Kontaktaufnahme mit dem Leiermann, einer an ihn gerichteten Frage, die aber unbeantwortet bleibt:


    «Wunderlicher Alter,

    Soll ich mit dir geh’n?

    Willst zu meinen Liedern

    Deine Leier dreh’n?»


    Also eine ganz einfache, authentische und menschliche Begegnung, die unbemerkt und in Unbehaustheit stattfindet. Zu Beginn der dritten Strophe heißt es: «keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an». (Bsp. Schubert «Leiermann» ab 3. Strophe: 1‘30“) Schubert komponiert hier «ein Lied im Lied»: dem Sänger und dem Pianisten auf dem Podium entsprechen die Hauptperson und der Leiermann im Lied. Die reale äußere Konstellation im Konzert spiegelt sich im imaginären Inneren des Liedes selbstbezüglich wider. Die Worte des Gedichts beschreiben das, was wir tatsächlich hören, das, was nicht nur imaginär IM Lied, sondern auch ganz real auf dem Podium ALS Lied stattfindet. Diese beiden Ebenen verhalten sich gegensätzlich zueinander: das real gesungene Lied besingt ein imaginäres Lied, das jedoch ungesungen bleibt, denn die Frage an den Leiermann blieb ja ohne Antwort. Dieses imaginäre und ungesungene Lied ist aber dennoch anwesend und sozusagen virtuell hörbar durch das tatsächlich gesungene Lied. Im Gegensatz zu den Musiker:innen auf dem Podium bleibt dem bettelnden Leiermann «sein kleiner Teller immer leer». Das innere, imaginäre und gleichsam ‹verschwiegene› Lied findet seinen Ort dort, wo es unbemerkt bleibt, ausgegrenzt, im Abseits, «drüben hinterm Dorfe»; während das äussere, real interpretierte Lied öffentlich aufgeführt wird im Scheinwerferlicht einer Konzertsituation vor applaudierendem Publikum. Das Reale und das Imaginäre durchdringen sich hier gegenseitig und bilden eine komplex sich widerspiegelnde und ineinander verschlungene Struktur. Wechselseitig geht eins ins andere über.

    Diese Art von Selbstbezüglichkeit erscheint fast wie ein Vorecho dessen, was man erst wieder im 20. Jahrhundert in einer avantgardistischen, später in anderer Form auch postmodernen, Ästhetik wiederfindet, deren Hauptmerkmal ausmachte, Kunst über Kunst zu schaffen, Musik über Musik zu komponieren, Selbstreferenz und Selbst-Reflexion zur bestimmenden Grundlage künstlerischen Handelns zu machen.

    Die Spannung zwischen Rückzug in die private Innerlichkeit und Präsentation in der Öffentlichkeit macht die besondere Aura der Kunstform Lied aus. Das Lied hat in diesem Sinne keinen Ort. Und in den innigsten Momenten von Schuberts Klangwelt spüre ich als existentielle Grundbefindlichkeit weniger das Pathos von Einsamkeit als vielmehr die weitaus unpathetischere und stillere Variante: die Verlassenheit. Vielleicht könnte das Annehmen einer gewissen Verlassenheit auch eine erste Voraussetzung zum Komponieren von Liedern sein? Und wäre das vielleicht auch eine erste Bestimmung des Ortes, von dem aus überhaupt komponiert wird? 


    Ich möchte schließen mit den Worten eines Liedes von Guillaume d’Aquitaine, dem ersten Trobador, der im 11. Jahrhundert in Frankreich lebte:


    «Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen:

    Weder über mich noch über andere,

    Weder über die Liebe noch über die Jugend,

    Noch über anderes,

    Ich habe es im Schlaf gedichtet

    Auf einem Pferd.»